Artikel

Problematische Vollmachten in Sozialhilfegesetzen

Das Berner Sozialhilfegesetz lässt sich nach Ansicht des Bundesgerichts verfassungskonform anwenden - zum Urteil des Bundesgerichts 8C_949/2011 vom 4. September 2012

Abstract

Autorinnen: Eva Maria Belser, Nathalie Hiltbrunner

Publiziert am 31.10.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Die Bestimmung, wonach Personen, die ein Gesuch um Sozialhilfe stellen, eine umfassende Vollmacht zu unterzeichnen haben, lässt sich verfassungskonform auslegen und anwenden.
  • Vollmachten sind nur zulässig, wenn sie zweckgebunden sind und ausschliesslich für die Beschaffung erforderlicher Informationen verwendet werden.
  • Die Weigerung der Gesuchstellerin, eine Vollmacht zu unterzeichnen, darf unter Umständen sanktioniert werden. Dabei muss die Leistungskürzung dem Fehlverhalten angemessen sein und darf den absoluten Existenzbedarf nicht berühren.

Sachverhalt

Im Rahmen der Diskussionen über Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe haben verschiedene Kantone ihre Sozialhilfegesetze revidiert und die Informations- und Auskunftspflichten der Betroffenen verstärkt. Dies gilt auch für den Kanton Bern, dessen neues Gesetz über die Sozialhilfe (Sozialhilfegesetz, SHG) am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist. Das neue Gesetz regelt in Art. 8 SHG das Sozialhilfegeheimnis und die Anzeigepflichten und -rechte jener Personen, die mit dem Vollzug der Sozialhilfe betraut sind, in Art. 8a SHG die Weitergabe von Informationen an Behörden und Privatpersonen, in Art. 8b SHG die Informationsbeschaffung sowie in Art. 8c die Auskunftspflichten und das Mitteilungsrecht.

Während die neuen Regelungen einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der gegenseitigen Rechte und Pflichten leisten, enthalten sie auch einige umstrittene gesetzliche Neuerungen. Dies gilt insbesondere für die erst im Rahmen der Beratungen eingefügte Generalvollmacht in Art. 8b Abs. 3 SHG. Danach holen die mit dem Vollzug des Gesetzes betrauten Personen für Informationen, die sie nicht anderweitig beschaffen können, «von den betroffenen Personen zum Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs um Gewährung von Sozialhilfe eine Vollmacht ein». Eine solche Vollmacht erlaubt den Sozialbehörden insbesondere, Informationen von Personen einzuholen, die dem Berufs- oder dem Bankengeheimnis unterstehen, z.B. von Ärzten/-innen, Psychotherapeuten/-innen, Banken, Anwälten/-innen. Ebenfalls umstritten waren die Ausnahmen vom Sozialhilfegeheimnis sowie gesetzlich geregelte Auskunftspflichten von privaten Dritten, die ohne Vollmacht eingeholt werden dürfen, z.B. Auskünfte von Personen, die in Hausgemeinschaft mit dem/r Sozialhilfebezüger/in stehen, Arbeitgeber/innen und Vermieter/innen.

Nachdem die Unterschriftensammlung für ein Referendum erfolglos verlaufen war, führten verschiedene Vereinigungen sowie zwei Einzelpersonen gegen diese Neuerungen Beschwerde vor Bundesgericht. Das Bundesgericht bejahte die Beschwerdelegitimation des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (KABBA) sowie einer Einzelperson, die selbst Sozialhilfebezügerin ist, und trat auf die Beschwerde ein.

Hauptstreitpunkt der Beschwerde bildete die Frage, ob die Generalvollmacht, welche die Behörden zu Beginn eines Verfahrens einholen können, im Widerspruch zur Verfassung und zur EMRK steht, insbesondere zum Grundrecht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und zum Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV sowie Art. 8 EMRK). Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, dass die Einwilligung zum Einholen von Informationen nicht freiwillig erfolge und dass eine Blankovollmacht eine unverhältnismässige Einschränkung der Grundrechte bedeute. Sie verlangten deshalb die teilweise Aufhebung des neuen Gesetzes.

Das Urteil des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde mit knappem Mehrheitsentscheid von 3 gegen 2 Stimmen ab. Da die umstrittene Bestimmung zur Vollmacht verfassungskonform ausgelegt und angewendet werden könne, lasse sich das Gesetz aufrechterhalten. Das höchste Gericht anerkannte aber die persönlichkeitsrechtliche Problematik der angefochtenen Bestimmung und hielt fest, dass die umstrittene Bestimmung nicht streng nach Wortlaut, sondern nur mit Einschränkungen angewendet werden dürfe.

Das Bundesgericht weist zunächst darauf hin, dass das Berner Sozialhilfegesetz eine Stufenfolge der Informationsbeschaffung vorsieht. Danach ist es zunächst an den betroffenen Personen, den Sozialbehörden im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. In zweiter Linie kommen die gesetzlichen Auskunftspflichten zum Zuge. Nur wenn sich die Informationen auf beiden Wegen nicht beschaffen lassen, kann sich die Sozialhilfebehörde auf die Vollmacht stützen.

Das Gericht erinnert anschliessend daran, dass eine Vollmacht eine gesetzliche Ermächtigung zur Informationsbeschaffung zu ersetzen vermag, nicht aber das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit. Die Vollmacht darf deshalb – auch wenn sie sehr umfassend erteilt wird – von den Behörden nur soweit genutzt werden, als sich dies für die Bearbeitung des Gesuchs als erforderlich erweist. Auch wenn Art. 8b Abs. 3 SHG sehr offen formuliert ist, ergibt eine verfassungskonforme Auslegung, dass er keinesfalls einen unbegrenzten oder unkontrollierten Datenfluss erlaubt. Es handelt sich denn auch nicht um eine Generalvollmacht, sondern um eine durch ihren Zweck deutlich eingeschränkte Vollmacht, die von den Behörden erst als letzte Massnahme und nur auf verhältnismässige Art und Weise genutzt werden darf. Weil Sozialhilfebezüger jederzeit und ohne besonders schutzwürdiges Interesse die Möglichkeit haben, ihre eigenen Akten einzusehen, haben sie nach Ansicht des Bundesgerichts auch die Möglichkeit, die Bearbeitung ihrer Daten zu kontrollieren.

Das Bundesgericht äussert sich schliesslich zur Frage der Freiwilligkeit der Vollmacht. Es stellt fest, dass Sozialhilfegesuchsteller zur Mitwirkung verpflichtet sind und das Erteilen der Vollmacht eine besondere Form der Mitwirkung darstelle. Die Verweigerung der Mitwirkung dürfe zu einer Leistungskürzung führen. Diese müsse jedoch dem Fehlverhalten angemessen sein und dürfe den absoluten Existenzbedarf nicht berühren. Weigere sich ein/e Gesuchsteller/in, die Vollmacht zu erteilen, dürfe dies deshalb nicht zu einem Nichteintreten führen. Vielmehr hätten die Sozialhilfebehörden mit Hilfe der vom Gesuchsteller gelieferten Daten und der aufgrund Gesetzes zugänglichen Daten abzuklären, ob eine Bedürftigkeit vorliege.

In den übrigen Teilen des Urteils verneinte das Bundesgericht die Grundrechtswidrigkeit der vorgesehenen Regelungen. Sowohl die weitgehenden Ausnahmen vom Sozialhilfegeheimnis als auch die Auskunftspflichten privater Dritter seien verfassungskonform.

Kommentar

Aus dem Urteil des Bundesgerichts ergibt sich, dass die Sozialhilfebehörden des Kantons Bern – und anderer Kantone, die vergleichbare Regelungen vorsehen – bei der Anmeldung zum Sozialhilfebezug eine Vollmacht zur Informationsbeschaffung unterzeichnen lassen dürfen. Diese darf jedoch nicht soweit gehen, wie es der Gesetzeswortlaut nahelegt, sondern darf nur zweckgebunden und verhältnismässig eingesetzt werden. Trotz der Problematik der umfassenden Vollmachten verzichtet das Bundesgericht darauf, Art. 8b Abs. 3 SHG aufzuheben. Es hält sich dabei an den Grundsatz, dass es eine kantonale Norm im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit nur in Ausnahmefällen aufhebt, dann nämlich, wenn eine verfassungskonforme Auslegung sich als eindeutig unvertretbar erweist.

Das knappe Abstimmungsergebnis bei der Urteilsfällung zeigt, dass auch das gegenteilige Ergebnis mit guten Gründen hätte vertreten werden können. In der Tat ist es nicht wünschenswert, dass eine gesetzliche Grundlage nach ihrem Wortlaut weiter geht, als dies aufgrund der Verfassung zulässig ist. Dies gilt ganz besonders, wo die gesetzliche Regelung auf eine Vielzahl von Personen angewendet wird, die in der Regel über keine besonderen Rechtskenntnisse verfügen, die nicht anwaltlich vertreten sind und aufgrund ihrer finanziell (und oft auch persönlich) schwierigen Situation besondere Schutzbedürfnisse aufweisen. Auch der Zeitpunkt der Vollmachterteilung erscheint problematisch. Aufgrund der Stufenfolge der Informationsbeschaffung wäre es wünschenswert, die Vollmacht erst einzuholen, wenn sich zeigt, dass die Sozialhilfebehörde sich sonst die Informationen nicht beschaffen kann, die sie zur Abklärung der Ansprüche braucht. Eine solche Vorgehensweise lässt jedoch der klare Wortlaut von Art. 8b Abs. 3 SHG («zum Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs») nicht zu. Es ist deshalb an den Sozialhilfebehörden, eine vorhandene Vollmacht nur dann zu nutzen, wenn erstens die anderen Mittel der Informationsbeschaffung versagen, wenn zweitens die Information für die Abklärung der Ansprüche erforderlich ist und wenn drittens die Informationsbeschaffung dem Gesuchsteller unter den gegebenen Umständen zuzumuten ist. Das Bundesgericht vertraut dabei auf die Professionalität der Sozialhilfebehörden, deren Personal dank seiner Ausbildung und beruflichen Ausrichtung zwischen erforderlichen und sachfremdem Informationen unterscheiden könne.

Dass die Argumente des Bundesgerichts nicht in allen Punkten überzeugen, zeigt sich auch daran, dass bei der öffentlichen Urteilsberatung offenbar von weiteren Einschränkungen der Vollmacht die Rede war, die einen Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs der Vollmacht sowie eine Information vor Gebrauch der Vollmacht verlangten. In der nun vorliegenden schriftlichen Urteilsbegründung jedoch fehlen diese beiden Auflagen. Umso bedeutsamer erscheint die Mustervollmacht, welche die Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern im August im Internet zugänglich gemacht hat, und auf welche sich das Bundesgericht bezieht. Diese Mustervollmacht ist wesentlich enger gefasst, als es die umstrittene Gesetzesbestimmung nach ihrem Wortlaut zulassen würde. Die einzelnen Stellen und Personen, die aufgrund der Vollmacht befragt werden dürfen (Versicherung, Pensionskasse, Bank, Post, Rechtsvertreter, Ärztin), werden im Dokument einzeln aufgeführt und können im Einzelfall angekreuzt oder nicht angekreuzt werden. Ausserdem ist die Vollmacht zeitlich begrenzt und enthält den Hinweis, dass sie jederzeit widerrufen werden kann. Gemäss den Erläuterungen zur Mustervollmacht muss vor deren Anwendung der betroffenen Person jeweils die Möglichkeit geboten werden, die Informationen selbst beizubringen.

Diese Vorkehren lassen hoffen, dass die Vollmachten in Zukunft auf eine Art und Weise eingesetzt werden, welche die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen nicht übermässig einschränken. Das unbestrittene öffentliche Interesse an verlässlichen Entscheidgrundlagen und an der Bekämpfung von Missbräuchen in der Sozialhilfe darf nicht vergessen lassen, dass die Sozialhilfebehörden besonders schützenswerte Daten bearbeiten und dass bedürftige Personen in der Regel besonders verletzlich und diskriminierungsgefährdet sind. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten ist deshalb zentral.

Bedeutsam erscheint auch der Hinweis des Bundesgerichts, dass die Weigerung der Gesuchstellerin, eine Vollmacht zu unterzeichnen, nicht dazu führen darf, dass die Behörden auf das Gesuch um Sozialhilfe nicht eintreten. Vielmehr haben sie die Bedürftigkeit aufgrund der von der Betroffenen verschafften Informationen und aufgrund der gesetzlichen Informationspflichten abzuklären. Für die Mehrheit der von den Sozialbehörden benötigten Informationen ist aufgrund der neuen Gesetzesregeln und der umfassenden Auskunftspflichten Dritter gar keine Vollmacht nötig. Nur wenn die Bedürftigkeit wegen der fehlenden Vollmacht nicht hinreichend abgeklärt werden kann, hat die betroffene Person Sanktionen zu gewärtigen.

Dass das Bundesgericht die umstrittenen Normen des Berner Sozialhilfegesetzes nicht aufgehoben, sondern lediglich einschränkend ausgelegt hat, bedeutet nicht, dass die Anwendung der Norm im Einzelfall nicht mehr überprüft werden könnte. Das Bundesgericht hat ausserdem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sozialhilfebezüger/innen das Recht haben, jederzeit Einsicht in die vollständigen Unterlagen zu verlangen. Stellt sich dabei heraus, dass Daten auf unzulässige Art und Weise erhoben wurden, kann sich die betroffene Person zur Wehr setzen und insbesondere die Löschung der betreffenden Daten verlangen.

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