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Nichtgewährung von Elternurlaub an alleinerziehenden Vater verletzt EMRK

Urteil Konstantin Markin gegen Russland vom 22. März 2012 (Beschwerde Nr. 30078/06)

Publiziert am 31.10.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts in Bezug auf den Elternurlaub festigt stereotype Rollenbilder, was sich negativ auf berufliche Karrieren von Frauen und das Familienleben von Männern auswirken kann.
  • Die Berufung auf stereotype Geschlechterbilder kann Diskriminierungen keinesfalls rechtfertigen.
  • Im Gegensatz zur Mehrheit der europäischen Staaten kennt die Schweiz keinen Elternurlaub für Väter und Mütter. Das Urteil hat keine direkte Bedeutung für die Schweiz, da die EMRK kein Recht auf Elternurlaub gewährt, sondern nur verlangt, dass ein solcher Urlaub geschlechtsneutral ausgestaltet werden muss, falls ein Land ihn einführt.

Sachverhalt

Am 22. März 2012 entschied die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Urteil Konstantin Markin gegen Russland (Nr. 30078/06) mit 16 zu einer Stimme, dass der russische Staat das Diskriminierungsverbot gemäss Artikel 14 in Verbindung mit dem Recht auf Privat- und Familienleben gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hat. Der Beschwerdeführer, ein Berufssoldat und alleinerziehender Vater, hatte ein Gesuch um Elternurlaub gestellt, wie es vom russischen Recht grundsätzlich für drei Jahre gewährt wird. Dieses wurde aber mit der Begründung verweigert, dass er im Gegensatz zu weiblichen Armeeangehörigen keinen gesetzlichen Anspruch auf Elternurlaub habe. Nachdem er gegen diesen Entscheid Beschwerde erhoben hatte, urteilte das russische Verfassungsgericht, dass sich die Ungleichbehandlung durch den besonderen Status von Armeeangehörigen rechtfertige. Soldaten würden sich dem Militär auf freiwilliger Basis anschliessen und könnten dieses auch wieder verlassen. Während dem Militärdienst dürfe der Staat die bürgerlichen Rechte und Pflichten der betroffenen Personen beschränken. Weiblichen Armeeangehörigen würde der Elternurlaub nur ausnahmsweise gewährt, da sie im Militär tendenziell untervertreten sind und als Mütter eine besondere Rolle hätten.

Obwohl ihm später doch noch zwei Jahre Elternurlaub gewährt wurden, erhob Herr Markin Beschwerde an den EGMR wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gestützt auf Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK. Mit Urteil vom 7. Oktober 2010 stellte die kleine Kammer des Gerichtshofs eine Verletzung der gerügten Rechte fest. In der Folge zog Russland den Entscheid weiter vor die grosse Kammer.

Urteil

Die Richterinnen und Richter der grossen Kammer prüften zunächst das Argument Russlands, wonach der Beschwerdeführer keinen Opferstatus mehr habe (Art. 34 EMRK), bereits entschädigt worden sei (Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK) und sein Beschwerderecht missbrauche (Art. 35 EMRK) und der Gerichtshof daher gar nicht auf die Beschwerde eintreten solle. Der EGMR stellt klar, dass der Beschwerdeführer sehr wohl Opferstatus habe, solange der russische Staat keine Verletzung seiner Rechte anerkenne (§ 83). Weiter sei dem Beschwerdeführer zwar zu einem späteren Zeitpunkt ein Elternurlaub gewährt worden, nicht aber während dem ersten Lebensjahr seines jüngsten Kindes und lediglich für zwei Jahre. Die Folgen einer möglichen Verletzung von Konventionsgarantien seien daher nicht schon auf nationaler Ebene wieder gut gemacht worden (§ 88). Ausserdem sei die Frage der Diskriminierung von Armeeangehörigen bezüglich Elternurlaubs aufgrund des Geschlechts für die Allgemeinheit von solchem Interesse, dass eine Prüfung durch den Gerichtshof notwendig sei, um zu einem einheitlichen Schutzstandard unter den Mitgliedstaaten beitragen zu können (§§ 89-90). Schliesslich könne Russland auch nicht geltend machen, der Beschwerdeführer missbrauche sein Beschwerderecht, da es dies im Verfahren vor der kleinen Kammer nicht gelten gemacht hatte (§ 96).

Bei der Prüfung einer Verletzung des Diskriminierungsverbots erinnert der Gerichtshof daran, dass Art. 14 EMRK nur zusammen mit einer anderen Konventionsgarantie gerügt werden kann (sog. akzessorisches Diskriminierungsverbot). In casu war fraglich, ob das Diskriminierungsverbot in Bezug auf Artikel 8 EMRK, dem Recht auf Privat- und Familienleben, verletzt worden war. Obwohl Art. 8 an sich noch keinen Anspruch auf Elternurlaub gewährt, sehen die Richterinnen und Richter das Recht auf Familienleben dennoch betroffen, da ein Elternurlaub, wo er gesetzlich vorgesehen ist, immer das Familienleben und dessen Organisation berührt. Wenn ein Staat also einen Elternurlaub einführt, so darf dies nicht auf diskriminierende Weise erfolgen (§ 130).

Bei der Beurteilung der Frage der Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK stellte der Gerichtshof fest, dass im Unterscheid zum Mutterschaftsurlaub beim Elternurlaub beide Elternteile gleich betroffen sind. Elternurlaub bezwecke, sowohl Mutter wie Vater zu ermöglichen, Betreuungspflichten wahrzunehmen (§ 132).

Im Bereich des Militärs hätten die Mitgliedstaaten zwar einen weiteren Ermessensspielraum, seien aber trotzdem an die EMRK gebunden (§§ 134 ff.). Die Schutzwirkung der Menschenrechtskonvention würde nicht an den Kasernentüren halt machen.

Schliesslich wiesen die Richter darauf hin, dass sich seit den 1980er-Jahren die gesamteuropäische Situation verändert habe. Im Urteil Petrovic gegen Österreich (Nr. 20458/92) von 1998 hatte der der EGMR die Klage eines Vaters auf Beanspruchung des «Karenzurlaubs» noch mit der Begründung abgewiesen, dass der Entscheid, einen solchen unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen nur Müttern und nicht Vätern zuzusprechen, im Ermessen der Staaten liege. Demgegenüber würden heute die meisten europäischen Staaten Elternurlaub für beide Elternteile gewähren (§ 140). Unterscheidungen aufgrund des Geschlechts können heute laut EGMR nur in sehr seltenen Fällen gerechtfertigt werden. Namentlich könne eine Diskriminierung nicht mit dem Verweis auf Tradition, soziale Gegebenheiten oder stereotype Rollenbilder begründet werden (§ 128, § 143). Im Gegenteil, Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts perpetuiere stereotype Rollenbilder und wirke sich negativ auf berufliche Karrieren von Frauen und das Familienleben von Männern aus. Da es für die Armee ein leichtes gewesen wäre, den Beschwerdeführer während eines Urlaubs zu ersetzen und dies im Falle von Soldatinnen auf der gleichen Position auch bereits so gemacht werde, kommt der Gerichtshof zum Schluss, dass Russland mit dem Ausschluss von männlichen Armeeangehörigen vom Elternurlaub das Diskriminierungsverbot verletzt hat (§ 151).

Auswirkungen für die Schweiz?

Anders als eine Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats kennt die Schweiz nach wie vor keinen vom Geschlecht unabhängigen Elternurlaub und auch keinen Vaterschaftsurlaub. Politische Vorstösse sowohl für die Einführung eines Eltern- als auch eines Vaterschaftsurlaubes wurden bis anhin stets abgelehnt. Ein Anspruch auf einen solchen Urlaub, der vom Mutterschaftsurlaub, welcher der Erholung der Mutter dient, zu unterscheiden ist, lässt sich aus der EMRK nicht ableiten, würde die Schweiz ihn aber einführen, müsste er geschlechtsneutral ausgestaltet sein.

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