Artikel

Kantonswechsel bei vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen

Urteil E-2324/2011 des Bundesverwaltungsgerichts präzisiert, dass es sich bei vorläufig aufgenommenen Personen und vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen um zwei unterschiedliche Kategorien handelt

Abstract

Autorin: Nicole Wichmann

Publiziert am 02.05.2012

Bedeutung für die Praxis

  • Kantonswechselgesuche von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen sind nach derselben Regelung zu prüfen wie diejenigen von Niedergelassenen.
  • Die entsprechenden Dokumente (Weisungen, Handbuch etc.) des Bundesamts für Migration, die der Praxis bei Kantonswechselgesuchen zugrunde liegen, gelten nicht mehr und sind anzupassen.

Kontext des Urteils

Die mit dem Status der vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge einhergehenden Rechte und Pflichten sind bis heute nicht restlos geklärt. In gewissen Bereichen werden die vorläufig aufgenommen Flüchtlinge wie vorläufig aufgenommene Personen (z.B. die dreijährige Wartefrist für den Familiennachzug) behandelt, während sie in anderen Rechtsfragen (z.B. auf dem Arbeitsmarkt) in den Genuss der durch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) garantierten Rechte kommen. Das vorliegende Urteil E-2324/2011 des Bundesverwaltungsgerichts ist insofern zu begrüssen, als es klar stellt, dass vorläufig aufgenommene Flüchtlinge gestützt auf Art. 26 GFK einen Anspruch auf Freizügigkeit haben.

Bei vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen handelt es sich um Personen, die zwar als Flüchtlinge anerkannt werden, die aber anstatt Asyl nur eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz erhalten. Vorläufig anerkannte Flüchtlinge sind somit Flüchtlinge, die keinen Asylstatus haben. Die Behörden verfügen eine vorläufige Aufnahme als Flüchtling, wenn ein Flüchtling asylunwürdig ist (Art. 53 AsylG) oder subjektive Nachfluchtgründe (Art. 54 AsylG) geltend macht. In der Praxis wird eine vorläufige Aufnahme ohne Asyl angeordnet, wenn Vorbehalte in Bezug auf die Art der politischen Aktivitäten bestehen (z.B. Beteiligung in einer bewaffneten Organisation im Herkunftsland) oder wenn Personen aufgrund ihrer Exilaktivitäten verfolgt werden. Gemäss der Asylstatistik des Bundesamts für Migration (BFM) lebten Ende 2011 3’902 vorläufig aufgenommene Flüchtlinge, 19’408 vorläufig aufgenommene Personen und 26’978 anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz.

Das Urteil

Der Beschwerdeführer, ein vorläufig aufgenommener Flüchtling, ersuchte das BFM, den Kantonen A und B ein Gesuch um Zustimmung zu einem Kantonswechsel zu unterbreiten. Er begründete den Kantonswechsel mit der Tatsache, dass er im Kanton B die Möglichkeit habe, in einem Spezialitätenrestaurant vollzeitlich zu arbeiten. Die Annahme der Stelle würde es ihm erlauben, sich von der Sozialhilfe abzulösen. Ein Kanton stimmte dem Kantonswechsel zu, während der andere Kanton seine Zustimmung verweigerte.

In der Folge lehnte das BFM das Gesuch ab. Der Beschwerdeführer begründete seine Beschwerde mit Verweis auf Art. 26 GFK, der das Recht von Flüchtlingen festschreibt, unter Vorbehalt „der Bestimmungen, die unter den gleichen Umständen für Ausländer im allgemeinen gelten“, ihren Aufenthaltsort zu wählen. Das BFM machte geltend, dass auf die Beschwerde nicht einzutreten sei, da der Beschwerdeführer sich nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes der Einheit der Familie gemäss Art. 85 Abs. 4 AuG berufen könne. Da die GFK in Bezug auf den Aufenthalt keine Privilegierung vorsehe (siehe Urteil, Sachverhalt D.), seien vorläufige aufgenommene Flüchtlinge beim Kantonswechsel zu behandeln wie vorläufig aufgenommene Personen.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte im vorliegenden Fall zu entscheiden, ob bei vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen die Regelung von Art. 85 Abs. 4 AuG betreffend den Kantonswechsel für vorläufig aufgenommene Personen oder die in Art. 26 GFK verankerte Freizügigkeit zur Anwendung kommt. Das Gericht kam in seiner Auslegung von Art. 85 AuG zum Schluss, dass es sich bei vorläufig aufgenommenen Personen und vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge um zwei unterschiedliche Kategorien handle (E.3.2.1). In den ausländerrechtlichen Bestimmungen zur vorläufigen Aufnahme werde denn auch konsequent unterschieden zwischen der rechtlichen Stellung der vorläufig aufgenommenen Personen und derjenigen der vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge. Die Bestimmungen in Art. 85 Abs. 4 AuG dürfen somit nur bei vorläufig aufgenommenen Personen ohne Flüchtlingseigenschaft zur Anwendung kommen.

Im Gegensatz dazu gewährt Art. 58 AsylG den Flüchtlingen alle Rechte wie sie für Ausländerinnen und Ausländer im Allgemeinen gelten. Zu diesen Rechten gehört im Einklang mit Art. 26 GFK das Recht auf Freizügigkeit (E 3.2.2). Art. 26 GFK verfolgt laut Bundesverwaltungsgericht das Ziel, die Einschränkungen bei der Wahl des Aufenthaltsortes und der Bewegungsfreiheit auf ein Minimum zu beschränken. Aus diesem Grund seien im vorliegenden Fall die Bestimmungen zum Kantonswechsel von Niedergelassenen anzuwenden. Da beim Beschwerdeführer keine Widerrufsgründe nach Art. 63 AuG vorliegen, kann der Beschwerdeführer einen Anspruch auf Kantonswechsel gestützt auf Art. 37 Abs. 3 AuG geltend machen.

Bedeutung des Urteils für die Praxis

Bisher hat das BFM die Gesuche betreffend Kantonswechsel der vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge unter den gleichen Kriterien wie bei vorläufig aufgenommenen Personen ohne Flüchtlingseigenschaft geprüft. In der Praxis bedeutete dies, dass das BFM bei vorläufig aufgenommenen Personen bisher nur einen Kantonswechsel bewilligte, wenn ein Anspruch auf Einheit der Familie oder eine schwerwiegende Gefährdung geltend gemacht werden konnte (siehe Art. 21 VVWA bzw. Weisung III Asylrecht, Ziff. 6.1.2). Wurden andere Gründe vorgebracht, musste die Zustimmung der beiden betroffenen Kantone eingeholt werden. Bei einem allfälligen Kantonswechsel von Flüchtlingen galten hingegen die allgemeinen ausländerrechtlichen Bestimmungen (Weisung III Asylrecht, Ziff. 6.2.3).

Aufgrund der Praxisänderung wird das BFM seine Abläufe bei der Prüfung des Kantonswechsels und die zugrunde liegenden Dokumente (Weisungen, Handbuch etc.) anpassen müssen. Das Bundesverwaltungsgericht regt zudem an, die Prüfung der Gesuche – analog wie bei Flüchtlingen mit Asyl – an die kantonalen Migrationsbehörden zu delegieren.

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