Artikel

Familienleben und Kindeswohl überwiegen

Das Bundesgericht lockert das Besuchsrecht für geschiedene Väter ausländischer Herkunft

Abstract

Autorin: Nicole Hitz Quenon

Publiziert am 11.12.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Gemäss Art. 50 Abs. 1b AuG besteht der Anspruch eines geschiedenen Elternteils auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen.
  • Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung bezüglich der Auslegung der "wichtigen persönlichen Gründe" geändert und an die heutigen Gegebenheiten angepasst.
  • Die besondere Intensität der affektiven (emotionalen) Beziehung mit seinem Kind, die für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung erforderlich ist, ist bei einem geschiedenen Vater ausländischer Herkunft bereits dann gegeben, wenn der Kontakt im Rahmen eines üblichen Besuchsrechts gepflegt wird. Voraussetzung ist jedoch, dass der Vater bereits vorher eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz besessen hat.

Sachverhalt

Aus der Beziehung des ausländischen Staatsangehörigen A. mit der Schweizerin B. ging 2009 ein Kind hervor. Im Sommer 2010 heirateten die beiden in der Schweiz. Kurz darauf, im Herbst 2010, zog das Ehepaar nach tätlichen Auseinandersetzungen in Erwägung, sich zum Wohle ihres Kindes zu trennen, blieb jedoch weiterhin zusammen. Anfang April 2011 ersuchte A. um Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung, die ihm gewährt wurde. Mitte April 2011 beantragten die Eheleute nach einer erneuten ehelichen Auseinandersetzung gemeinsam die Scheidung ihrer Ehe. Das Scheidungsurteil wurde Ende April 2011 gefällt. Dabei wurde der Mutter das Sorgerecht zugesprochen, während der Vater für berechtigt erklärt wurde, seine Tochter jeden Sonntag zu sehen. Eine weitere Verlängerung der ablaufenden Aufenthaltsbewilligung des Vaters wurde vom Migrationsamt abgelehnt. A. reichte daraufhin Beschwerde gegen diesen Entscheid ein und zog den Fall an die öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts (BGer) weiter (2C_1112/2012 vom 14. Juni 2013).

Gesetzliche Lage

Das Bundesgericht muss prüfen, ob wichtige persönliche Gründe für einen weiteren Aufenthalt des Vaters in der Schweiz im Sinne von Art. 50 Abs. 1b AuG vorliegen. Eine schützenswerte Beziehung zu einem Kind, das über ein Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügt, kann insbesondere ein solcher Grund sein. Bisher war das Bundesgericht der Ansicht, es sei nicht erforderlich, dass ein Elternteil ausländischer Herkunft dauerhaft in der Schweiz leben muss und dass das Besuchsrecht in der Regel auch im Rahmen von Kurzaufenthalten vom Ausland her wahrgenommen werden kann. Gemäss der ständigen bisherigen Rechtsprechung des BGer kann ein weitergehender Anspruch nur unter bestimmten Voraussetzungen in Betracht fallen, etwa wenn in wirtschaftlicher und affektiver (emotionaler) Hinsicht eine besonders enge Beziehung zum Kind besteht und diese wegen der Distanz zum Heimatland des Ausländers praktisch nicht aufrechterhalten werden könnte. Zudem setzte das BGer voraus, dass das bisherige Verhalten des Ausländers in der Schweiz tadellos war.

Anlässlich einer Analyse der Entwicklung der Rechtsprechung des BGer bezüglich der besonderen Intensität der affektiven Beziehung zum Kind (Erwägung 2.3) kommt das BGer zum Schluss, dass die besondere Intensität bis anhin daran gemessen wurde, ob ein grosszügig ausgestaltetes Besuchsrecht eingeräumt und dieses kontinuierlich, spontan und reibungslos ausgeübt wurde. Das BGer weist auf die Entwicklung der Rolle des Vaters in der Beziehung mit dem Kind in den letzten Jahren hin und erwähnt, dass die gelungene Regelung des Kontakts für das Kind von grosser Bedeutung ist. Dieser Perspektivenwechsel hat dazu geführt, dass grosszügig ausgestaltete Besuchsrechte zunehmend verbreitet sind, was auch eine Reflexwirkung auf die Qualifikation der affektiven Beziehung hat, die für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung erforderlich ist. Die besondere Intensität, die früher nur bei einem grosszügig ausgestalteten Besuchsrecht möglich war, entspricht heute den allgemeinen Gegebenheiten. Bei der Auslegung von Art. 50 Abs. 1b AuG verweist das BGer auch auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie auf Art. 9 Abs. 3 der Kinderrechtskonvention (KRK), gemäss der "die Vertragsstaaten das Recht des Kindes [achten], das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmässige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht", fügt jedoch an, dass die Bestimmungen der KRK zwar mittelbar zu berücksichtigen sind, sich daraus jedoch keine einklagbaren Rechte ergeben.

Das BGer unterscheidet im Rahmen seiner Erwägungen zwischen zwei Situationen (Erwägung 2.5). Einerseits ein nicht sorgeberechtigter ausländischer Elternteil, der zuvor über ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz verfügte: Hier ist das Erfordernis der besonderen Intensität der affektiven Beziehung bereits dann als erfüllt zu betrachten, wenn der persönliche Kontakt im Rahmen eines nach heutigem Massstab üblichen Besuchsrechts ausgeübt wird. Andererseits ein ausländischer Elternteil ohne Aufenthaltsbewilligung: In diesem Fall ist weiterhin ein grosszügiger als üblich ausgestaltetes Besuchsrecht erforderlich.

Die weiteren Bedingungen, nämlich dass das Besuchsrecht kontinuierlich und reibungslos ausgeübt wird, sowie eine besonders intensive Beziehung in wirtschaftlicher Hinsicht und ein tadelloses Verhalten des Elternteils bestehen weiter.

Im vorliegenden Fall von A. kam das BGer zum Schluss, dass eine enge affektive Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter besteht, und dass sich der Vater von Anfang an sehr an der Betreuung des Kindes beteiligt hat. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht bejaht das BGer die Existenz einer hinreichend engen Beziehung. Was das tadellose Verhalten des Beschwerdeführers angeht, weist das BGer die Angelegenheit zu weiteren und vertieften Abklärungen der tätlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Ex-Frau an die Vorinstanz zurück.

Kommentar

Mit dem vorliegenden Urteil korrigiert das BGer teilweise die frühere Rechtsprechung und stellt das Recht des Kindes, nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt zu werden, ins Zentrum der Auslegung von Art. 50 Abs. 1 b AuG. Es trägt dadurch dem Grundsatz des Kindeswohls Rechnung. In der Erwägung 2.3 führt das BGer die Entwicklung in der Schweiz bezüglich der Rolle des Vaters in der Erziehung des Kindes und der damit einhergehenden Erweiterung des Besuchsrechts aus. Hervorzuheben bleibt jedoch, dass die Anpassung der Rechtsprechung bezüglich der engen Beziehung nur für ausländische Elternteile gilt, die bereits über ein Aufenthaltsrecht verfügten. Ansonsten ist nach wie vor ein grosszügiger als üblich ausgestaltetes Besuchsrecht erforderlich.

Das Urteil ist zudem unter dem Gesichtspunkt der jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Schweiz zu betrachten, bei denen das Recht auf Familienleben sowie das Kindeswohl bei der Wegweisung ausländischer Elternteile überwiegen (siehe Artikel Recht auf Familien- und Privatleben in der jüngsten Rechtsprechung zu Schweizer Fällen, SKMR-NL Nr. 10).

In diesem Sinne bleibt die Frage, weshalb sich das BGer nicht bereits zum Kriterium des tadellosen Verhaltens geäussert und die Frage zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen hat. Angesichts der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Hasanbasic) darf die Frage gestellt werden, ob der genügenden wirtschaftlichen und affektiven Beziehung bei der Abwägung der Interessen nicht mehr Gewicht zukommen sollte als der Tatsache, dass es zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Frau zu tätlichen Auseinandersetzungen kam. Dies insbesondere auch weil diese Auseinandersetzungen (die zwar sicherlich nicht belanglos sind), keine Gefahr oder Bedrohung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellen.

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