Artikel

Ein Rahmengesetz für die Sozialhilfe?

Institutionelle Überlegungen zum Harmonisierungsbedarf in einem grundrechtssensiblen Rechtsbereich

Abstract

Autorinnen: Andrea Egbuna Joss, Eva Maria Belser

Publiziert am 19.05.2015

Relevanz für die Praxis:

  • Gemäss Bundesverfassung sind die Kantone für die Regelung und Ausrichtung der Sozialhilfe zuständig. Jüngere Entwicklungen setzen die Sozialhilfe erhöhtem Druck aus (Zunahme der bedürftigen Personen, Zunahme der Bezugsdauer) und zeigen, dass sich die kantonalen und kommunalen Unterschiede auch negativ auf die Rechtspositionen Einzelner auswirken können. Namentlich besteht die Gefahr eines Wettbewerbs um möglichst tiefe Leistungen oder unattraktive Bezugsbedingungen.
  • Ein Bericht des Bundesrates zur Frage, inwieweit ein stärkeres Eingreifen des Bundes angezeigt ist, identifiziert den bestehenden Harmonisierungs- und Koordinationsbedarf. Als Instrumente für eine einheitlichere Regelung stellt der Bericht neben einer Rahmengesetzgebung durch den Bund auch die Umsetzung durch Zielvereinbarungen mit den Kantonen, den Abschluss eines Konkordates oder die bessere Koordination der Kantone unter Beibehaltung des Status quo zur Diskussion.
  • Weder die Kantone noch der Bund sprechen sich für eine Bundeskompetenz zur Vereinheitlichung der Sozialhilfe aus. In der Tat ist fraglich, ob ein nationales Rahmengesetz einen wirksamen und nachhaltigen Beitrag zur Lösung der identifizierten Probleme leisten und zur angestrebten Sicherung der Sozialhilfe führen würde.
  • Viele der aktuellen Probleme könnten bereits durch eine verbesserte Durchsetzung der bestehenden Normen und einen stärkeren Rechtsschutz für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger entschärft, wenn nicht gar gelöst werden. Die Kantone sind nun in der Pflicht, im Bereich der Sozialhilfe und der Existenzsicherung ihre Bemühungen um eine bessere Koordination und Harmonisierung weiterzuführen. Von zentraler Bedeutung sind dabei auch die Schnittstellen zu den Sozialversicherungen.

Das soziale Existenzminimum als Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Grundrechte

In der Schweiz besteht ein engmaschiges System der sozialen Sicherheit: Die AHV, die IV, die Erwerbsersatzlosenordnung, die Arbeitslosenversicherung sowie die Regelung über Familienzulagen sollen die in der Schweiz wohnhaften Personen und ihre Familien vor Risiken schützen, deren finanzielle Folgen sie nicht alleine bewältigen können. Als «letztes Netz» soll schliesslich die Sozialhilfe all diejenigen Personen unterstützen, die alleine nicht in der Lage sind, hinreichend oder rechtzeitig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Obwohl die Sozialhilfe gegenüber sämtlichen Eigenleistungen und gesetzlichen Leistungen Dritter subsidiär ist, ist sie mit aktuell über 250‘000 unterstützen Personen zu einer wichtigen Säule im System der sozialen Sicherheit der Schweiz geworden. Neu ist der Trend, dass die für vorübergehende und kurzfristige Unterstützung konzipierte Sozialhilfe immer öfter auch für Bedürftige aufzukommen hat, die – etwa wegen langfristiger Arbeitslosigkeit oder unzureichender Integration – langfristig auf wirtschaftliche Unterstützung angewiesen sind.

Die Bundesverfassung gewährt in Art. 12 jeder Person in Not, welche nicht selber für sich sorgen kann, einen Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind (sog. Nothilfe). Bei der Ausgestaltung dieses «Netzes unter dem letzten Netz der Sozialhilfe» kommt dem Schutz der Menschenwürde (Art. 7 BV) als Leitprinzip eine zentrale Bedeutung zu.

Während die Nothilfe alle Menschen voraussetzungslos vor einer «unwürdigen Bettelexistenz» bewahren soll, geht die Sozialhilfe über das verfassungsrechtliche Minimum der Nothilfe hinaus. Sie gewährleistet ein sog. soziales Existenzminimum, welches den unterstützten Personen einen gewissen Handlungsspielraum eröffnet und ihnen dadurch ermöglichen soll, an der Gesellschaft teilzuhaben und auch tatsächlich ihre übrigen verfassungsmässig garantierten Grundrechte in Anspruch nehmen zu können. Massgebend für die Ausgestaltung der Sozialhilfe sind neben den Grundrechten und den Sozialzielen der Bundesverfassung (Art. 41) auch die Rechte des UNO-Paktes zum Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Mit diesem Abkommen hat sich die Schweiz verpflichtet, unter Ausschöpfung all ihrer Möglichkeiten – vor allem durch gesetzgeberische Massnahmen (Art. 2) – die volle Verwirklichung dieser Rechte (etwa des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, Art. 11) zu erreichen.

Grundsatz: Die Regelung und Finanzierung der Sozialhilfe liegt in der Kompetenz der Kantone

Die Bundesverfassung bestimmt in Artikel 115: «Bedürftige werden von ihrem Wohnkanton unterstützt. Der Bund regelt die Ausnahmen und Zuständigkeiten.» Obwohl die Norm auf den ersten Blick nur die Zuständigkeit regelt, entnehmen ihr Lehre und Rechtsprechung eine Pflicht der Kantone, Sozialhilfe auszurichten, die über die blosse Nothilfe hinausgeht.

Das Zuständigkeitsgesetz des Bundes (ZUG) bestimmt, welcher Kanton für die Unterstützung einer bedürftigen Person zuständig ist. Ausdrücklich verboten ist gemäss Art. 10 ZUG das Abschieben einer bedürftigen Person auf einen anderen Kanton. Für die Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen an Asylsuchende, Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene sowie Auslandschweizerinnen und -schweizer hat der Bund Ausnahmen vorgesehen. Im Übrigen regeln die Kantone in kantonalen Sozialhilfegesetzen die Voraussetzungen und die Ausrichtung der Sozialhilfe und tragen auch deren Kosten. In den meisten Kantonen wurde die Vollzugskompetenz an die Gemeinden delegiert, welche oft über erhebliche Handlungsspielräume verfügen.

Vorteile und Nachteile der föderalistischen Ausgestaltung der Sozialhilfe für die Einzelnen

Durch eine ausgeprägt föderalistische Lösung kann sichergestellt werden, dass den örtlichen Begebenheiten und den Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen werden kann. Dies entspricht auch dem in der Sozialhilfe geltenden Individualisierungsprinzip, gemäss welchem die Hilfe an den Einzelfall angepasst werden soll. Somit kann das föderalistisch ausgestaltete System der Sozialhilfe durchaus auch ein Vorteil für die unterstützungsbedürftigen Personen sein, liegt es doch auf der Hand, dass z.B. Ausgesteuerte, Alleinerziehende, Grossfamilien sowie Personen mit Leistungsschwächen oder Suchtproblematiken sehr unterschiedliche Bedürfnisse aufweisen.

Das föderalistische System kann sich – zusammen mit dem allgemeinen Spardruck sowie umstrittenen Schnittstellen mit den Sozialversicherungen des Bundes – aber auch nachteilig auf die Einzelnen auswirken. In der Praxis bestehen zwischen den Kantonen und manchmal auch zwischen den Gemeinden im selben Kanton markante Unterschiede in Bezug auf die Höhe der zugänglichen materiellen Unterstützung. Schweizweit nicht einheitlich geregelt sind allerdings nicht nur die Ansätze der Sozialhilfe im engeren Sinne, sondern auch vorgelagerte bedarfsabhängige Leistungen wie die Alimentenbevorschussung, Prämienverbilligungen, Wohnkostenbeiträge und Ergänzungsleistungen für Familien. Weitere Ungleichheiten ergeben sich zudem auch aus der Bundesgesetzgebung, die je nach Aufenthaltsstatus sehr unterschiedliche Sozial- und Nothilferegimes für Ausländerinnen und Ausländer vorsieht (Nothilfe, erweiterte Nothilfe oder reduzierte Sozialhilfe).

Nicht nur für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger, sondern auch für einkommensschwache Personen oder Familien bedeutet dies, dass sie nach einem Umzug in eine andere Gemeinde oder einen anderen Kanton Gefahr laufen, plötzlich weniger materielle Unterstützung zu erhalten, obwohl die persönlichen und faktischen Umstände am alten und am neuen Wohnort vergleichbar sind.

Diese Ungleichheiten verstossen allerdings nicht bereits an sich gegen das Rechtgleichheitsgebot von Art. 8 BV. Gemäss Bundesgericht bezieht sich das Gebot der Rechtsgleichheit stets nur auf den Zuständigkeitsbereich ein und derselben Behörde bzw. Gebietskörperschaft. Aus der föderalistischen Staatsstruktur der Schweiz ergibt sich somit, dass die Kantone und Gemeinden in ihrem Zuständigkeitsbereich auch unterschiedliche Regelungen treffen können und dürfen (vgl. BGE 125 I 173 Erw. 6d). Dabei haben sie selbstverständlich stets die rechtstaatlichen Grundsätze der Bundesverfassung und die Vorgaben der Grund- und Menschenrechte zu beachten. Solange diese eingehalten werden, ergibt sich aber aus dem Bundesrecht keine weitergehende Verpflichtung zu einer schweizweit einheitlichen Lösung.

Die Gefahr eines negativen Wettbewerbs in der Sozialhilfe ...

Nichtdestotrotz können diese grundsätzlich zulässigen Unterschiede vor dem Hintergrund der steigenden Sozialhilfekosten in den Kantonen und Gemeinden und des zunehmenden Spar- und Legitimierungsdruckes die Gefahr eines negativen Wettbewerbs in der Sozialhilfe fördern. Auf Gemeindeebene wird die Problematik verschiedentlich aufgrund sehr ungleicher soziodemografischer Bedingungen und einem ungenügenden Finanzausgleich innerhalb des Kantons noch zusätzlich verschärft. Im Namen der Kostensenkung wird daher versucht, die eigenen Sozialhilferegelungen in Bezug auf Leistungen und Bezugsbedingungen möglichst «unattraktiv» auszugestalten, um abschreckend auf bedürftige Neuzuzüger/innen zu wirken.

... in den Kantonen

Parlamentarische Vorstösse in den Kantonen zielen vermehrt auf den Leistungsabbau im Sozialhilfebereich (s. z.B. die Sparpläne im Kanton Bern, Der Bund vom 6.5.2015), schlagen zudem etwa die Einführung von Autoverboten für Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger vor (vgl. z.B. die Debatte im Kanton Zürich, NZZ vom 19.1.2015) oder fordern, dass die Sozialhilfekosten aus Pensionskassengeldern zurückerstattet werden müssen. Teilweise wird der bestehende Spardruck auch durch kantonale Vorgaben verstärkt: Im Kanton Bern wurde 2012 zur Steigerung der Kosteneffizienz der kommunalen Sozialdienste ein eigentliches Bonus-Malus-System eingeführt. Weicht eine Gemeinde bei ihren Sozialhilfekosten vom berechneten Durchschnittswert pro Einwohner ab, soll sie mit einem Bonus bzw. Malus belegt werden. Gegen die erstmals 2014 ausgestellten Bonus-Malus-Verfügungen sind aktuell mehrere Beschwerden hängig, welche auch die Rechtmässigkeit des Systems an sich in Frage stellen. Die kantonale Gemeinde- und Fürsorgedirektion hat daher vorgeschlagen, die Bonus-Malus-Zahlungen 2015 bis zur Klärung der rechtlichen Fragen zu sistieren (vgl. Medienmitteilung, 16. März 2015).

... und den Gemeinden

Aus verschiedenen Gemeinden wurden Berichte bekannt, gemäss denen vereinzelt durch das Ausüben von mehr oder weniger sanftem Druck oder angepassten Auszahlungsmodalitäten der Sozialhilfe versucht wurde, die Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger zu einem Umzug in eine andere Gemeinde zu bewegen. Ein solches Vorgehen verstösst gegen das Abschiebeverbot von Art. 10 Abs. 1 ZUG, welches vorsieht, dass die Behörden «einen Bedürftigen nicht veranlassen [dürfen], aus dem Wohnkanton wegzuziehen, auch nicht durch Umzugsunterstützungen oder andere Begünstigungen, wenn dies nicht in seinem Interesse liegt.» Das Verbot kommt in analoger Weise auch innerkantonal zur Anwendung.

Sofern Gemeinden aktiv auf Vermieter oder potenzielle Neuzugüger/-innen einwirken, um letztere vom Zuzug in die Gemeinde abzuhalten, kann dieses Vorgehen indirekt zu einem unzulässigen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit (Art. 24 Abs. 1 BV) führen, auf welche sich zumindest Schweizerinnen und Schweizern sowie EU-Staatsangehörige in der Schweiz berufen können.

Das bekannteste Beispiel für eine solche Praxis ist der anfangs 2015 bekannt gewordene «Fall Rorschach». Eine Sozialhilfebezügerin hatte sich in St. Gallen abgemeldet und wollte in die Gemeinde Rorschach umziehen. Als sie sich beim Rorschacher Sozialamt anmelden wollte, wurde sie offenbar mehrfach daran gehindert. Zudem wurden Vermieter aufgefordert, der Frau keinen Mietvertrag auszustellen. Schlussendlich zog die Frau zurück nach St. Gallen, dessen Sozialdienst in der Folge ein Richtigstellungsbegehren an die Stadt Rorschach richtete und sich den Weiterzug des Falles an das kantonale Verwaltungsgericht vorbehielt.

Während Rorschach bisher der weitaus berühmteste Fall war, ist er sicher nicht der einzige. Auch die Festsetzung von unrealistisch tiefen Mietzinsen als «ortsüblich» durch die Sozialbehörden (zu denen auf dem Gemeindegebiet kaum Wohnungen zu finden sind) sowie raumplanerische Massnahmen, die auf die Reduktion von günstigem Wohnraum zielen, können unfreiwilligen Sozialtourismus fördern.

Bestrebungen zur Harmonisierung und Verbesserung der Koordination

Um zumindest die Berechnung und Ausrichtung der Sozialhilfe innerhalb ihres Kantonsgebiets zu harmonisieren und besser zu koordinieren, haben bisher fünf Kantone (TI, GE, NE, BS und VD) Harmonisierungs- und Koordinationsgesetze verabschiedet.

Auf gesamtschweizerischer Ebene fehlt bisher ein gemeinsamer verbindlicher Rahmen. In der Praxis orientieren sich die Sozialdienste jedoch an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Die SKOS ist der Fachverband für Sozialhilfe und als privater Verein organisiert. Aktuell verfügt die SKOS über rund 1000 Mitglieder, darunter alle 26 Kantone und das Fürstentum Liechtenstein, ein Grossteil der schweizerischen Städte und Gemeinden, rund 150 Organisationen der privaten Sozialhilfe sowie einzelne Bundesämter. Im Auftrag ihrer Mitglieder erarbeitet die SKOS seit über 50 Jahren Richtlinien zur Ausrichtung der Sozialhilfe. Die Richtlinien definieren wichtige Eckpunkte der Sozialhilfe wie das sog. soziale Existenzminimum oder mögliche Integrationsmassnahmen, Auflagen und Sanktionen gegenüber Sozialhilfebeziehenden. Von den Richtlinien nicht geregelt werden Fragen des Zusammenwirkens der Sozialhilfe mit den übrigen Institutionen der sozialen Sicherheit.

Aus rechtlicher Sicht stellen die SKOS-Richtlinien Empfehlungen dar, die erst durch einen entsprechenden Verweis in der kantonalen oder kommunalen Gesetzgebung verbindlich werden. In einigen Kantonen dienen die Richtlinien nur als Richtwerte, in anderen sind sie teilweise oder ganz verbindlich. Zudem räumen die Richtlinien den Behörden relativ grosse Spielräume ein, die von diesen teilweise auch genutzt werden. In der Folge ergeben sich in der Umsetzung nicht selten erhebliche Unterschiede und es wird deutlich, dass die Richtlinien das Problem der kantonalen und kommunalen Ungleichheiten zwar entschärfen, jedoch nicht vollständig zu lösen vermögen.

Bei dieser Einschätzung darf jedoch nicht ausser Acht gelassen werden, dass kantonale und kommunale Unterschiede ohne weiteres hinzunehmen bzw. erwünscht sind, soweit sie Kantonen und Gemeinden erlauben, neue Formen der sozialen Unterstützung vorzusehen, die Eingliederung in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt besonders zu fördern sowie Tagesstrukturen oder gezielte Beratungsangebote auszubauen. Sie sind jedoch problematisch, wenn sie einen negativen Wettbewerb befördern und bundesrechtswidrig, wenn sie zu nicht gerechtfertigten Beschränkungen grundrechtlicher Ansprüche führen.

Die Richtlinien der SKOS sind aktuell in Revision. Obwohl sich die Kantone und Gemeinden bei der Ausarbeitung und Revision der Richtlinien einbringen können und allein über das Ausmass von deren rechtlicher Verbindlichkeit entscheiden, wird die Kritik am Umstand, dass eine nicht-staatliche Organisation faktisch für die Definition der Sozialhilfe zuständig ist, zunehmend lauter. Bemängelt wird insbesondere die schwache demokratische Legitimität der Richtlinien. Im Herbst 2015 sollen daher die revidierten Richtlinien erstmals von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) genehmigt werden. Bisher hat die SODK die Richtlinien den Kantonen und Gemeinden bloss zur Anwendung empfohlen.

Ist ein stärkeres Aktivwerden des Bundes nötig?

Angesichts der bestehenden Ungleichheiten und der wachsenden Bedeutung der Sozialhilfe werden auf politischer Ebene seit über 20 Jahren Diskussionen über die Notwendigkeit eines stärkeren Eingreifens des Bundes geführt. Durch eine einheitliche Regelung solle der Status der Sozialhilfe gestärkt und die Existenzsicherung schweizweit einheitlicher organisiert werden. Diverse parlamentarische Vorstösse (zuletzt z.B. Motion Humbel, 11.3638, Motion Weibel, 11.3714, Motion Weibel, 12.3031) zielten dabei auf die Verabschiedung eines Rahmengesetzes zur Existenzsicherung oder eines Rahmengesetzes für die Sozialhilfe analog zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG).

Der Bundesrat sprach sich unter Hinweis auf die verfassungsmässige Ordnung und die Zuständigkeit der Kantone gemäss Art. 115 BV stets gegen die Vorstösse aus. In seinen Erklärungen wies er darauf hin, dass die «Tatsache, dass die Sozialhilfe nicht auf Bundesebene geregelt ist, (nicht) bedeutet, dass es rechtlich gesehen zu einer Lücke zwischen den verfassungsrechtlichen Sozialzielen und dem Sozialsicherheitssystem kommt.» Zudem stehe es den Kantonen offen, die Leistungen untereinander besser aufeinander abzustimmen.

Im November 2013 reichte schliesslich die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates ein Postulat ein und beauftragte den Bundesrat zu prüfen, ob und inwiefern ein Rahmengesetz für Sozialhilfe Antworten auf die aufgeworfenen Fragen bieten könnte.

Der Bericht des Bundesrates

Der Bundesrat veröffentlichte in Erfüllung dieses Postulates Ende Februar 2015 seinen Bericht zur «Ausgestaltung der Sozialhilfe und der kantonalen Bedarfsleistungen – Handlungsbedarf und -möglichkeiten». Zusammenfassend müssen aus Sicht des Bundesrates in vier Bereichen Massnahmen ergriffen werden: Bei der Vereinheitlichung von Aspekten, die allgemein gültig sein müssen, wie der Definition von Sozialhilfe und ihrer Funktion oder von Anspruchsvoraussetzungen; bei der Harmonisierung analoger, aber nicht zwingend einheitlicher Aspekte wie der Leistungsarten, der Verfahren und des Rechtsschutzes; bei Massnahmen zur institutionellen Stärkung der Sozialhilfe; sowie der Koordination mit anderen Leistungssystemen (vgl. Bericht, S. 47).

Der Bericht erörtert anschliessend die Stärken und Schwächen der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele. Zur Diskussion gestellt werden neben dem Erlass eines Rahmengesetzes auch eine Zielvereinbarung zwischen Bund und Kantonen, ein Konkordat mit Allgemeinverbindlichkeitserklärung und Beteiligungspflicht (Art. 48a BV) sowie die Beibehaltung des Status quo unter Weiterführung der laufenden Arbeiten.

Für ein Rahmengesetz wäre die Einführung einer neuen Verfassungsgrundlage erforderlich. Nach dem Vorschlag des Bundesrats könnte es sich dabei um eine bedingte Zuständigkeit des Bundes handeln, die nur zum Zuge käme, wenn die Harmonisierungsbemühungen zwischen den Kantonen scheitern sollten. Auch bei einer Zielvereinbarung im Bereich der Sozialhilfe oder einem Konkordat im Rahmen von Art. 48a BV wären Verfassungsanpassungen notwendig. Das Konkordat scheint zwar ein gangbarer, aber auch ein sehr schwerfälliger Weg, um die kantonalen Bestimmungen zu harmonisieren und zu koordinieren, zumal eine Allgemeinverbindlicherklärung einen Bundesbeschluss mit Referendumsmöglichkeit voraussetzen würde. Bei der bedingten Bundeszuständigkeit würde sich ausserdem (wie gegenwärtig bei HarmoS) die Frage stellen, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt eine interkantonale Harmonisierung denn als gescheitert gelten würde.

Die wichtigsten Akteure sind sich einig, dass Anpassungen notwendig sind und in verschiedenen Bereichen eine harmonisierte Regelung angestrebt werden sollte. Uneinigkeit besteht jedoch bezüglich des Vorgehens zur Erreichung dieses Ziels. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK plädiert für ein weiter gefasstes Rahmengesetz zur Existenzsicherung, lehnt aber ein Rahmengesetz für die Sozialhilfe ab. Stattdessen will sie den SKOS-Richtlinien eine höhere Legitimität verleihen, indem sie diese zukünftig genehmigt. Der Schweizerische Gemeindeverband spricht sich ebenfalls gegen ein nationales Sozialhilfegesetz aus und bevorzugt stattdessen Reformen mittels einer Überarbeitung der SKOS-Richtlinien, die Anpassungen der kantonalen Gesetzgebungen oder allenfalls den Abschluss eines Konkordates. Sowohl die Städteinitiative Sozialpolitik als auch die SKOS sprechen sich demgegenüber für ein Rahmengesetz Sozialhilfe aus. Parallel dazu schlagen sie vor, dass der Bund seine bestehenden Handlungsmöglichkeiten gemäss Art. 114 Abs. 5 BV (Arbeitslosenfürsorge) und Art. 116 (Bekämpfung der Familienarmut) besser nutzen solle, um bestehende Lücken zu schliessen.

Zwischenfazit

Zusammenfassend lässt sich zunächst festhalten, dass das föderalistische System gut auf lokale Eigenheiten und die persönlichen Umstände des Einzelfalles eingehen kann und somit dem Individualisierungsprinzip in der Sozialhilfe Rechnung trägt. Im Ergebnis führt dieses System aber auch zu grossen Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Kantone sowie – dies allerdings auch aufgrund der Bundesgesetzgebung – zwischen unterschiedlichen Personengruppen.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden öffentlichen Debatte über die Kostenentwicklung und die Leistungshöhe der Sozialhilfe kann das Bestehen dieser Ungleichheiten falsche Anreize setzen. Will bzw. muss eine Gemeinde oder ein Kanton sparen, ist die Versuchung gross, die Unterstützung Bedürftiger einschliesslich der Sozialhilfe möglichst unattraktiv auszugestalten, die Ansätze möglichst unter denjenigen der Nachbargemeinden oder Nachbarkantonen festzulegen und durch weitere aus grundrechtlicher Sicht teilweise problematische Methoden zu versuchen, die Zahl der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger in der Gemeinde oder dem Kanton möglichst niedrig zu halten.

Lösungsansätze

Viele Probleme, welche durch diesen negativen Wettbewerb in der Sozialhilfe entstehen, könnten allerdings bereits heute durch einen verbesserten Finanzausgleich innerhalb der Kantone sowie durch eine konsequentere Durchsetzung der bestehenden einheitlichen Rechtsnormen entschärft oder gar gelöst werden. So wird z.B. Behördenverhalten, welches gegen das Abschiebeverbot in Art. 10 ZUG verstösst, bisher nur selten geahndet. Auch das Bundesgericht hält sich diesbezüglich zurück und begnügt sich meist mit der Feststellung, dass die Gemeinden «zumindest nicht willkürlich» gehandelt hätten (vgl. z.B. BGer-Urteil 8C_805/2014 vom 27. Februar 2015, Erw. 4).

Auch ein wirksamer Grundrechtsschutz in der Sozialhilfe - insbesondere in Verbindung mit einer Stärkung des Rechtsschutzes - kann der Nivellierung nach unten Einhalt gebieten. In der Praxis werden Beschwerden von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern wegen Verletzung ihrer Grundrechte jedoch oft als aussichtslos eingestuft und in der Folge wird ihnen auch keine unentgeltliche Rechtshilfe gewährt. Entsprechend selten sind höchstrichterliche Entscheide, die für eine Klärung des bundesrechtlichen Minimums sorgen und jene Harmonisierung durchsetzen, die sich aus dem bestehenden Bundes- und dem Völkerrecht ergibt.

Schwachstellen eines Rahmengesetzes

Im Hinblick auf die Ausarbeitung eines nationalen Rahmengesetzes für Sozialhilfe ist zu bedenken, dass es sich bei der Sozialhilfe um einen grundrechtssensiblen Bereich handelt. Die Grund- und Menschenrechte der Bundesverfassung und des Völkerrechts dienen Bund, Kantonen und Gemeinden bei der Rechtsanwendung wie auch bei der Rechtssetzung als verbindliche Leitplanken. Durch eine Vereinheitlichung wird ihre Achtung und ihr Schutz aber nicht notwendigerweise verbessert. Politische Vorstösse, die auf striktere Vorgaben und einen Leistungsabbau in der Sozialhilfe zielen, könnten auf Bundesebene möglicherweise sogar noch an Attraktivität gewinnen, da ihnen mediale Aufmerksamkeit sicher wäre. Es ist deshalb keineswegs gewiss, dass eine einheitliche Regelung den erwünschten Beitrag zur Stärkung der Sozialhilfe leisten würde.

Während bundesrechts- und insbesondere auch grundrechtswidrigem kantonalen Recht die Anwendung versagt werden kann (und sogar eine abstrakte Überprüfung kantonaler Sozialhilfegesetze möglich ist), müsste das Bundesgericht eine ähnlich problematische Regelung in einem Bundesgesetz auch bei festgestellter Rechtswidrigkeit anwenden (Art. 190 BV). Selbst die Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Hintertür des Völkerrechts wäre den rechtsprechenden Instanzen mangels Anerkennung der Einklagbarkeit von sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten weitgehend verwehrt.

Ausserdem ist zu bedenken, dass eidgenössische Grundsätze, die interkantonales, kantonales und kommunales Recht ergänzen, die Herausforderung der Koordination und der Zusammenarbeit mit den Sozialversicherungen sowie mit anderen eidgenössischen, kantonalen, kommunalen und privaten Leistungserbringern sowie mit Vermieterinnen und (sozialen) Arbeitgebern/-innen nicht aus der Welt schaffen würden.

Fazit

Mit Blick auf die Stärkung der Sozialhilfe und deren grundrechtskonforme und kostengünstige Ausgestaltung liegt das weitere Vorgehen nicht von vornherein auf der Hand. Neben einer eidgenössischen Harmonisierung durch ein Rahmengesetz sollten deshalb auch alternative Problemlösungen weiter verfolgt werden. Dazu gehören vor allem ein verbesserter Finanzausgleich innerhalb der Kantone, ein stärkerer Rechtsschutz für Sozialhilfebezügerinnen und –bezüger, eine konsequente Durchsetzung bestehender grundrechtlicher und anderer bundesrechtlicher Vorgaben (namentlich des Abschiebeverbots), eine effiziente Aufsicht über die Sozialdienste, eine intensivere, demokratisch legitimierte und rechtsstaatlich einwandfreie freiwillige Koordination unter den Kantonen sowie die Stärkung und Weiterentwicklung der SKOS-Richtlinien und deren Genehmigung und Verabschiedung durch die SODK.

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