Artikel

Die Stellung des Kindes bei einer medizinischen Behandlung:

Einwilligung, Verweigerung, Recht auf Anhörung, Kindeswohl

Abstract

Autor: Jean Zermatten
(Übersetzung aus dem Französischen)

Publiziert am 17.09.2014

Bedeutung für die Praxis:

  • Die Stellung des Kindes bei einer medizinischen Behandlung ist in der Schweiz kaum ein Thema.
  • Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 der Kinderrechtskonvention (KRK) haben Einfluss auf die Praxis von Fachkräften im Gesundheitswesen und sollten mehr Bekanntheit erlangen.
  • Angesichts der zunehmenden Autonomie, die Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung zugestanden wird, könnte man von einer „medizinischen Vor-Volljährigkeit" sprechen.

Einleitung

Im Februar 2014 hat das belgische Zweikammerparlament einen Gesetzestext verabschiedet, der am 28. Februar 2014 vom König unterzeichnet wurde. Dieses Gesetz ist bahnbrechend, da es das Recht auf Sterbehilfe auf Kinder ausweitet und dies ohne Altersgrenze, sofern das Kind urteilsfähig ist. Das Gesetz legt einen zwingenden Rahmen fest: Das Kind muss sich „in einer medizinisch aussichtslosen Lage“ befinden, „die innert kurzer Frist zum Tode führt und sein körperliches Leiden muss anhaltend und unerträglich sein, ohne dass Linderung möglich ist. Zudem ist die Zustimmung beider Elternteile oder des Vormunds unabdingbar. Darüber hinaus sieht das Gesetz vor, dass ein „Kinderpsychiater oder ein Psychologe“ Einsicht in die Krankenakte nimmt, das Kind untersucht und sich vergewissern muss, dass es über ein ausreichendes Urteilsvermögen verfügt, um zu verstehen, was der Tod bedeutet. Die gesetzlichen Vertreter/innen müssen über das Ergebnis dieser Feststellung informiert werden und zudem ihre explizite Zustimmung zum Wunsch des Kindes geben.

Das Gesetz stiess nicht nur in Belgien, sondern weit über die Landesgrenzen hinaus auf Kritik. Im Zentrum der Kritik stehen: die fehlende Altersgrenze, die zu ungenaue Definition der Urteilsfähigkeit und die Definition von „innert kurzer Frist“, ganz zu schweigen von den moralischen Fragen, welche die Gegner/innen einbrachten.

In Belgien existiert das Recht auf aktive Sterbehilfe für Erwachsene und für mündig erklärte Minderjährige seit 2002 (Belgisches Euthanasiegesetz vom 28. Mai 2002). Der 2014 verabschiedete Gesetzestext erweitert dieses Gesetz. Nur in den Niederlanden ist aktive Sterbehilfe für Minderjährige ebenfalls erlaubt, jedoch erst ab einer Altersgrenze von 12 Jahren (Dekret über die Lebensbeendigung auf Antrag und assistierten Freitod, in Kraft seit dem 1. April 2002).

Das Ziel des vorliegenden Artikels besteht nicht darin, die belgische Gesetzesbestimmung zu kommentieren. Es bietet vielmehr Gelegenheit aufzuzeigen, wie in der Schweiz die Stellung des Kindes bei einer medizinischen Behandlung (worunter alle möglichen Behandlungsformen zu verstehen sind) einzuschätzen ist mit Blick auf die in der Kinderrechtskonvention (KRK) verwendeten Begrifflichkeiten. Dabei geht es um Fachausdrücke wie Einwilligung, Urteilsfähigkeit, Recht des Kindes auf Anhörung (Art. 12 KRK) und das Recht des Kindes, dass sein Wohl ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist (Art. 3 Abs. 1 KRK). Des Weiteren geht der vorliegende Artikel auf einige besondere Situationen im Gesundheitswesen ein.

Das Recht zur Einwilligung in eine Behandlung: Ein relatives höchstpersönliches Recht

Die Frage der Einwilligung in eine medizinische Behandlung ist eine heikle Angelegenheit. Sie schwankt zwischen zwei Punkten: Die eine Seite steht für die Verletzlichkeit des Kindes und dem daraus hervorgehenden Schutzbedürfnis, das umso bedeutsamer ist, wenn das Kind leidet, krank oder sogar in Lebensgefahr ist. Auf der andern Seite steht die in der KRK anerkannte Tatsache, dass sich die Fähigkeiten des Kindes entwickeln und es für seine Gesundheit und Genesung zuständig ist (schliesslich geht es um seinen Körper und seinen Geist, mit denen es vertraut ist). Es gilt in Erinnerung zu behalten, dass die KRK hier einen Fortschritt markiert, denn sie anerkennt, dass sich die Fähigkeiten zwischen Geburt und 18. Lebensjahr sehr schnell entwickeln und dass beim Entscheid, ab wann ein Kind bestimmte Rechte selbständig wahrnehmen kann, diese Entwicklung zu berücksichtigen ist. Diese Sichtweise des Kindes als Subjekt gilt es somit auch im Gesundheitswesen zu übernehmen, auch wenn oft die Meinung vorherrscht, nur die Eltern und/oder die Fachkräfte könnten einen fachkundigen Entscheid treffen.

In der Schweiz gibt es keine Gesetzesbestimmung, die den gesetzlichen Status des Kindes bei einer medizinischen Behandlung regelt, weshalb die allgemeinen Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs (ZGB) zur Anwendung kommen. Im Schweizer Recht, wie in vielen anderen Ländern, verfügt ein Kind zwar über subjektive Rechte, bleibt jedoch bis zu seiner Volljährigkeit juristisch handlungsunfähig. Das Kind kann seine Rechte somit in der Regel nicht eigenständig wahrnehmen und Art. 304 ZGB benennt die Eltern als die „natürlichen“ gesetzlichen Vertreter der Kinder. Allerdings ist diese gesetzliche Vertretung nicht mehr absolut und wird nicht mehr systematisch angewandt, denn im Falle einer Interessenkollision entfällt sie (Art. 306 Abs. 2 und 3 ZGB) und die Kinderschutzbehörde ernennt einen Beistand (Art. 306 Abs. 2 und 3 ZGB).

Das Gesetz anerkennt bezüglich des Grundsatzes, dass die juristische Handlungsfähigkeit mit der Volljährigkeit erlangt wird, einige Ausnahmen:

  • Urteilsfähige Kinder können ihre Rechte selbst ausüben, wenn dies ein Gesetz ausdrücklich vorsieht;
  • Gemäss Art. 19 c Abs. 2 ZGB kann ein urteilsunfähiges Kind seine höchstpersönlichen Rechte ohne die Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters ausüben.

Es muss also eingegrenzt werden, was genau mit den „höchstpersönlichen Rechten“ gemeint ist. Gemäss Rechtsprechung (BGE 117 II 6 Erwägung 1. b) gilt es, zwei Elemente zu unterscheiden. Einerseits gibt es die absoluten höchstpersönlichen Rechte, bei denen keine Vertretung durch die Eltern oder einen Vormund möglich ist (zum Beispiel der letzte Willen, Vaterschaftsanerkennung usw.). Andererseits gibt es die relativen höchstpersönlichen Rechte, bei denen ein urteilsfähiges Kind rechtliche Schritte, insbesondere vor einem Gericht, einleiten kann, und ein urteilsunfähiges Kind sich vertreten lassen darf (zum Beispiel Entscheide bezüglich der Zuweisung der elterlichen Sorge, der elterlichen Obhut oder des Rechts auf persönliche Beziehungen).

Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass das Recht zur Einwilligung in eine medizinische Behandlung ein relatives höchstpersönliches Recht ist, das eine urteilsfähige minderjährige Person ohne Vertretung wahrnehmen kann, jedoch kein absolutes höchstpersönliches Recht, das eine urteilsunfähige minderjährige Person eigenständig ausüben könnte (BGE 114 Ia 350).

Die Urteilsfähigkeit

Der zentrale Punkt ist also das Urteilsvermögen eines Kindes, weil ihm das Recht zur eigenständigen Einwilligung in eine medizinische Behandlung nur unter der Voraussetzung der Urteilsfähigkeit zugesprochen wird. Doch welche Gesichtspunkte werden in der Schweiz bei deren Beurteilung in Betracht gezogen?

Der Begriff kommt schon in Art. 11 Abs. 2 der Bundesverfassung vor: „Sie [die Kinder] üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus“. Die Urteilsfähigkeit bringt aber insbesondere Art. 16 ZGB zum Ausdruck: „Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln“.

Das Alter des Rechtsubjets ist also ein Grund für fehlendes Urteilsvermögen. Doch bis zu welchem Alter ist dies der Fall? Darauf gibt es zahlreiche Antworten.

Die Schweizer Gesetzgebung sieht keine Altersgrenze für die Gewährung der Urteilsfähigkeit vor. Sie ist sehr flexibel und berücksichtigt neben dem Alter auch die Reife, die Auffassungsgabe, die Fähigkeit zu differenzieren sowie die mündliche Ausdrucksfähigkeit. Der Bereich ist somit relativ flexibel und die Urteilsfähigkeit des Kindes muss von Fall zu Fall evaluiert werden, wobei auch dessen persönliche Situation zu berücksichtigen ist. Aus Sicht der Kinderrechte bietet das Schweizer Recht einen Vorteil gegenüber anderen Systemen, die einzig auf dem Alter des Kindes basieren.

Bei den Erwachsenen geht man davon aus, dass sie urteilsfähig sind, sofern nicht das Gegenteil nachgewiesen wird. Bei den Kindern verhält sich dies genau umgekehrt: Man geht davon aus, dass sie nicht urteilsfähig sind, insbesondere bei jungen Kindern. Bei Jugendlichen, die kurz vor dem Erreichen der Volljährigkeit stehen, ist die Lage anders (evolving capacities), da angenommen werden kann, dass sie urteilsfähig sind. Besteht ein Zweifel (in die eine oder andere Richtung), muss die Urteilsfähigkeit von Fall zu Fall abgeklärt werden.

Da die eigenständige Ausübung der Rechte allein von der Urteilsfähigkeit abhängt, muss unseres Erachtens präzisiert werden, dass es keine teilweise oder fortschreitende Urteilsfähigkeit gibt. Auch wenn sie schrittweise erworben wird, muss sie ab einem gewissen Moment gewährt werden und zwar nach einer Überprüfung der persönlichen Umstände des Rechtssubjekts, wobei das Resultat ausschliesslich „urteilsfähig“ oder „–unfähig“ heissen kann. Für den Gesundheitsbereich bedeutet dies, dass die Stellung des zu behandelnden Kindes in einem bestimmten Moment mit Hilfe spezifischer Fragestellungen geklärt werden muss.

  • Wird die Auffassungsgabe eines leidenden Kindes nicht durch die Krankheit oder die Einnahme von bewusstseinsverändernden Substanzen beeinträchtigt?
  • Welchen Einfluss haben eingenommene Medikamente auf die kognitiven Fähigkeiten und den Willen?
  • Welchen Einfluss üben Eltern / Nahestehende / andere Kinder aus?
  • Welchen Einfluss üben Ärzteschaft und das Pflegepersonal aus (ausschlaggebender Einfluss?)?
  • Welche Rolle spielt die Religion?
  • Gibt es einen Unterschied zwischen gewöhnlichen medizinischen Behandlungen und schweren chirurgischen Eingriffen oder sogar einer Palliativversorgung?
  • Ist eine Einwilligung objektiv nachvollziehbar, insbesondere wenn bewusstseinsverändernden Substanzen eingenommen wurden?
  • Welchen Einfluss haben eine (körperliche oder geistige) Behinderung oder besondere Bedürfnisse des Kindes?
  • Führt das Risiko, zum Beispiel die Gefahr zu sterben, nicht zu einer vollkommen anderen Einschätzung der Lage?

Im Gesundheitswesen muss der Entscheid schliesslich vom behandelnden Arzt, bzw. möglicherweise einem Ärztekollegium oder gegebenenfalls von einer Schutzbehörde getroffen werden.

Die Einwilligung im Gesundheitswesen

Die Urteilsfähigkeit bedeutet für das Kind eine gewisse Autonomie, die über die Frage der elterlichen Sorge hinausgeht. Dieses Prinzip kommt auch im Gesundheitswesen zur Anwendung. In der Schweiz hat somit ein urteilsfähiges Kind das Recht, seine Einwilligung in eine medizinische Behandlung zu geben. Gleiches gilt für Deutschland, Frankreich, Quebec, Spanien und Grossbritannien oder Belgien, auch wenn der Begriff der Urteilsfähigkeit dort nicht wortwörtlich derselbe ist. Urteilsfähige Kinder verfügen in diesen Ländern somit über eine Art „medizinische Vor-Volljährigkeit“.

Dies ist nicht in allen Ländern der Fall, in vielen Rechtssystemen existiert kein solches Recht, vor Erreichen des 18. Lebensjahres ohne die Zustimmung der Eltern oder des Vormunds, eine Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung zu geben (Tunesien, Japan).

Das Recht eine medizinische Behandlung zu verweigern

Darf ein urteilsfähiges Kind, das eigenständig seine Einwilligung zu einem Eingriff geben kann, diesen auch verweigern? Sofern es über die intellektuellen und emotionellen Anforderungen sowie den Willen verfügt, eine Situation und deren Herausforderungen zu verstehen und sich eigenständig festzulegen, dann sollte es auch das Recht haben, eine medizinische Behandlung abzulehnen.

Das Beispiel Grossbritannien

Dennoch geht das Recht des kranken Kindes zu wählen in einigen Rechtssystemen wie etwa in Grossbritannien nur soweit, dass es in Behandlung zwar einwilligen, sich ihr aber nicht widersetzen kann. Zwar wurde mit dem berühmten Fall Gillick (Gillick v West Norfolk and W. AHA (1984), QB 581) bereits 1984 anerkannt, dass ein genügend reifes Kind – sogar ohne dessen Eltern zu informieren – seine Einwilligung zu einer Behandlung geben kann, dennoch erlaubt es das britische Autonomiekonzept dem Kind nach wie vor nicht, einen Eingriff zu verweigern. So haben die Gerichte in verschiedenen Fällen der Ärzteschaft und den Eltern Recht gegeben, die sich dem Willen des Kindes, einer Behandlung zu verweigern, widersetzt haben. Natürlich kann die Verweigerung einer Behandlung das Leben des Kindes in Gefahr bringen, daher ist es verständlich dass sich keine Gesellschaft ihrer Schutzpflicht entziehen kann. Dennoch erscheint es problematisch, dass man sich auf die Urteilsfähigkeit und auf deren Überprüfung/Einschätzung stützt und dem Kind, sofern es den rechtlichen Bedingungen entspricht, das Recht zubilligt einer Behandlung eigenmächtig zuzustimmen, und ihm gleichzeitig nicht erlaubt, sich für eine Verweigerung zu entscheiden.

In der Schweiz

In der Schweiz beinhaltet das Recht auf Einwilligung auch ein Recht auf Verweigerung. Im Artikel „The Rights of adolescents patients in Switzerland“ führt Manaï aus, dass die Urteilsfähigkeit zwar die Fähigkeit vernünftig zu handeln verlangt, nicht jedoch vernünftige Entscheidungen zu treffen. Widersetzt sich ein krankes Kind einem Eingriff und bringt somit sein Leben in Gefahr, müssen der/die behandelnde Arzt/Ärztin, das Ärztekollegium oder die Schutzbehörde besonders darauf achten, dass der Entscheid des Kindes ohne äussere Zwänge erfolgt ist.

Das Bundesgericht hat sich im Jahr 2008 (BGE 134 III 235) bei der Beurteilung eines Falles, in dem ein Osteopath eine 13-jährige Jugendliche behandelte, mit der Thematik befasst. Das Kind erhielt die Behandlung in Anwesenheit der Mutter, trotz Protest der jungen Patientin. Das Kinde wurde für urteilsfähig befunden, der Arzt verurteilt, weil er dem Kind, das sich dem Eingriff widersetzte, ein Behandlung aufgezwungen hatte. Zudem entbehrte die Behandlung jeglichen therapeutischen Nutzens ohne die Zusammenarbeit der jungen Patientin.

Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung durch ein Kind wurde 2013 in der SKMR-Studie „Knabenbeschneidung aus juristischer Sicht“ behandelt. Darin halten die Autorinnen fest, dass dem Kind, das sich einem medizinischen Eingriff verweigert, ein Vetorecht zusteht.

Das Recht des Kindes auf Anhörung (Art. 12 KRK)

Das Recht des Kindes gehört zu werden, wie es in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12 des Kinderrechtsausschusses ausgeführt wird, beinhaltet, dass jedes Kind das Recht hat, in Angelegenheiten, die das Kind betreffen, seine Meinung frei zu äussern. Jedes Kind darf somit den Entscheid beeinflussen, da der Entscheidungsträger die Meinung des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigen muss. Es ist unbestritten, dass das Recht des Kindes auf Anhörung im Gesundheitswesen und bei medizinischen Behandlungen respektiert werden muss. Allgemein muss man sich die Frage stellen, ob die Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, insbesondere die Ärzteschaft, die über einen medizinischen Eingriff entscheiden muss, dieses Recht einhalten und die Meinung des Kindes systematisch und angemessen berücksichtigen.

In der KRK wurde keine Altersgrenze für die Anhörung des Kindes festgesetzt, um die Ausübung des Rechts gehört zu werden nicht zu stark einzuschränken. Auch hier bestehen grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten. Die entscheidende Frage ist insbesondere, wie viel Gewicht man der Meinung des Kindes gibt. Auch darauf liefert die KRK keine Antwort. Sie führt aus, dass das Kind das Recht hat, gehört zu werden, und dass seine Meinung ernst genommen werden muss, sobald es fähig ist, einen Sachverhalt zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Absatz 19 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 15 des Kinderrechtsausschusses ist diesbezüglich unmissverständlich:

„Artikel 12 verweist auf die Wichtigkeit der Mitbestimmung des Kindes, indem es sein Recht auf Anhörung wahrnehmen kann und indem die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt wird. Dies gilt auch für die Meinung des Kindes zu allen Aspekten der medizinischen Versorgung wie etwa die Art der erforderlichen Versorgung, die geeignetste Art und der geeignetste Ort für die Versorgung, die Hindernisse beim Zugang oder der Benutzung der Versorgung, die Qualität der Versorgung und die Einstellung der Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen oder die Art, wie die Fähigkeiten des Kindes gestärkt werden können.“

Das Recht auf Einwilligung und das Recht auf Anhörung sind somit nicht identisch, vielmehr stellt das zweite Recht eine Etappe des ersten dar. Denn wie kann beispielsweise über die Urteilsfähigkeit im Falle einer medizinischen Behandlung bestimmt werden, wenn das Kind nicht angehört wird?

Dabei sollte nicht vergessen werden, dass das Kind nicht vollständig urteilsfähig sein muss, um angehört zu werden, sondern dass es reicht, wenn ein Kind fähig ist, „of forming his or her own views“ (Art. 12 Abs. 1 KRK).

Das Recht des Kindes, dass sein Wohl vorrangig zu berücksichtigen ist

Art. 3 Abs. 1 KRK schreibt vor, dass das Wohl des Kindes bei allen Massnahmen (auch jenen im Gesundheitswesen) ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Aus den Allgemeinen Bemerkungen Nr. 14 und 15 des Kinderrechtsausschusses wird ersichtlich, dass das Wohl des Kindes bei allen Entscheidungen im Gesundheitswesen zu berücksichtigen ist. Die Entscheidungsträger (Eltern bei urteilsunfähigen Kindern, Ärzteschaft, Ärztekollegium, interdisziplinäres Team von Fachleuten oder die Schutzbehörde) müssen somit mehrere Elemente berücksichtigen: die Wahl, die Anpassung oder das Ende der Behandlung, die Einwilligung zu einer Behandlung oder deren Verweigerung, ein allfälliger Konflikt zwischen dem Kind und dessen Eltern oder zwischen Kind und Fachleuten usw.

In allen Situationen ist von Fall zu Fall abzuklären, welche Auswirkungen die verschiedenen Lösungen auf das Kind haben. Dies ist ein wichtiger Schritt im Prozess der Entscheidungsfindung, da damit sichergestellt werden kann, dass das Wohl des Kindes berücksichtigt wird. Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 des Kinderrechtsausschusses führt aus:

„77. Das Recht des Kindes auf Gesundheit (Art. 24) sowie dessen Gesundheitszustand spielen bei der Analyse des Kindeswohls eine zentrale Rolle. Sind für eine bestimmte Krankheit mehrere Behandlungen möglich und ist der Ausgang einer Behandlung unklar, müssen die Vorteile der einzelnen Behandlungen mit den entsprechenden Risiken und möglichen Nebenwirkungen abgewogen werden, und die Meinung des Kindes muss entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden“.

Wie bemisst das Schweizer Gesundheitswesen die Urteilsfähigkeit?

Die Urteilsfähigkeit bildet das zentrale Konzept, wenn es um die Haltung des Kindes gegenüber einer medizinischen Behandlung geht. Bei der Urteilsfähigkeit handelt es sich um die Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Sie besteht einerseits aus einer intellektuellen Komponente, die man umschreiben kann als Fähigkeit, eine Situation richtig einzuschätzen, erhaltene Informationen zu verstehen und die möglichen Folgen eines Entscheids zu erkennen. Andererseits besteht sie aus dem Willen, im Sinne der freien, unbeeinflussten und nicht unter Druck erlangten Einschätzung situationsgemäss zu handeln.

Diese Definition hat auch die Schweizer Ärztevereinigung übernommen (Schweizerische Ärztezeitung, 2004;85: Nr. 32/33, S. 1704).

Die medizinischen Fachkräfte verwenden sehr oft ein vierstufiges Modell, anhand dessen sie die Urteilsfähigkeit einer Person evaluieren. Dies ist am folgenden Beispiel, das vom Universitätsspital des Kantons Waadt (CHUV) in Lausanne stammt, ersichtlich (Dokument CIR 10291).

  1. Die Erkenntnisfähigkeit: Dem jungen Patienten müssen die Art des Problems, die Diagnose und die vorgeschlagene Behandlung (Risiken/Nutzen) in einer verständlichen Sprache mitgeteilt werden. Diese Informationen müssen ohne Druck übermittelt werden, das Kind muss Fragen stellen können und eine Bedenkfrist erhalten (siehe EACH Charter). Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Art, wie eine Information übermittelt wird, die Antwort teilweise beeinflusst.
  2. Die Wertungsfähigkeit: Das Kind muss das Problem und die vorgeschlagene Behandlung und allfällige Alternativen entsprechend seinem Alter, insbesondere aber seiner Reife, verstehen; dies erfolgt im Allgemeinen im Rahmen eines vertieften Gesprächs zwischen Arzt/Fachkräften und dem/r jungen Patienten/-in, damit sichergestellt werden kann, dass alle Folgen der verschiedenen Behandlungen erwähnt werden.
  3. Die Fähigkeit zur Willensbildung: Das Kind muss seinen Entscheid begründen können und dabei zeigen, dass es die verschiedenen Elemente ohne Druck aus seinem Umfeld oder durch den Arzt/die Fachkräfte gegeneinander abgewogen hat und danach einen Entschluss gefasst hat.
  4. Die Fähigkeit seinem Willen Ausdruck zu geben und dem Druck von aussen zu widerstehen. Dies erfordert eine unmissverständliche Kommunikation des Entscheids.

Dieses Modell orientiert sich an Elementen aus den Arbeiten von Priscilla Alderson (2007), die richtigerweise hinzufügt, dass es auch wichtig ist, sicherzustellen, dass die Fachkräfte, die mit dem Kind sprechen, dessen Einwilligung benötigen und dessen Wohl berücksichtigen sollten, über die erforderlichen Kompetenzen verfügen. Somit stellt sich die Frage nach der Ausbildung der Fachkräfte (siehe EACH Charter).

Spannungsfeld zwischen Autonomie und Schutz: Besondere Situationen

Abtreibung

Das Thema Abtreibung geht weit über den medizinischen Eingriff hinaus und umfasst juristische, religiöse, moralische und ethische Elemente. Zudem steht das Thema auch mit der Frage der Intimität, der Sexualität und der Vertraulichkeit in Verbindung.

Wendet man strikt die Autonomie-Regel an, müsste man den Entscheid eines jungen urteilsfähigen schwangeren Mädchens abzutreiben akzeptieren, ohne dessen Eltern beizuziehen. Die Frage ist jedoch heikel, denn in gewissen Fällen kann eine Abtreibung sehr schädliche Folgen für die Heranwachsende haben, insbesondere wenn die Abtreibung aufgrund äusserer Umstände erfolgt. In anderen Fällen kann jedoch der Abteibungsentscheid, den die Jugendliche eigenständig fällt, auch positive Auswirkungen haben (sie kann weiterhin zur Schule gehen, wird keinem Gespött ausgesetzt usw.).

Eine weitere wichtige Frage ist, ob eine urteilsunfähige Jugendliche gegen den Willen der Eltern und/oder der Fachkräfte eine Abtreibung verweigern oder sich der Abtreibung widersetzen darf und ihr Kind behalten kann. In solchen Situationen verwendet das medizinische Personal den Begriff des Vetorechts (oder Widerspruchsrechts). Dieses Recht ist allgemein anerkannt und auch urteilsunfähige Kinder können es anwenden, was der Jugendlichen erlauben würde, ihr Kind zu behalten.

Genau in solchen Situationen sind die Informationsarbeit und der Austausch mit der Fachkraft wichtig, wobei man hier aufgrund der Wichtigkeit der Fragen eher von einem interdisziplinären Team sprechen sollte. Heikel ist auch die Frage der Vertraulichkeit des Eingriffs. Das Kind hat ein Recht auf Vertraulichkeit (Art. 13 BV), die anfallenden Kosten und die Übernahme durch die Krankenkasse führen hingegen oft dazu, dass die Vertraulichkeit nicht mehr gewährt ist.

Das Thema der Abtreibung kann sinnbildlich auf das viel weiter verbreitete Thema der Verschreibung von Verhütungsmitteln ausgeweitet werden. In diesem Bereich gewährt die Schweizer Ärzteschaft den Kindern viel Autonomie und einen hohen Vertraulichkeitsgrad. Gleiches gilt auch für Beratungszentren im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

Bluttransfusion

Auch das Thema der Bluttransfusion beinhaltet Elemente, die über die Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung hinausgehen, etwa wenn man das Beispiel der Verweigerung durch die Zeugen Jehovas nimmt. Dabei kommen auch Themen wie die Urteilsfähigkeit, die Religionsfreiheit, der Druck durch die Eltern und der Schutz des Rechts auf Leben zum Tragen.

Die Religionsfreiheit wird in Art. 14 KRK und Art. 15 BV behandelt (Glaubens- und Gewissensfreiheit). Sie gewährleistet den Kindern, diese Freiheit ab einem gewissen Alter oder einer gewissen Reife auszuüben. In der Schweiz sieht Art. 303 Abs. 3 ZGB vor, dass ein Kind selbständig über sein religiöses Bekenntnis entscheiden kann, nachdem es das 16. Altersjahr zurückgelegt hat.

Im Zweifelsfall wird die Frage der Urteilsfähigkeit und der freien oder der informierten Einwilligung untersucht: Steht das Kind unter dem Einfluss der Eltern oder einer starken religiösen Bewegung im familiären Umfeld oder trifft das Kind einen freien Entscheid? Es ist sehr schwierig, dies festzustellen, da es von Fall zu Fall unterschiedlich und vom Alter (16-jährig oder noch nicht) und der Reife des Kindes abhängig ist. Einige Kinder treffen einen wohlüberlegten Entscheid, während andere diesen unter Druck fällen.

Auch das Recht auf Leben (Art. 6 KRK) und der erforderliche Schutz des Kindes kommen zum Tragen, da in den meisten Fällen eine Todesgefahr besteht, wenn eine Transfusion nicht durchgeführt wird. Verweigert ein urteilsfähiges Kind eine Bluttransfusion, kann eine Zwangsbehandlung zur Anwendung kommen, die jedoch nur unter strengen Voraussetzungen möglich ist, etwa im Falle einer Todesgefahr. Der Kanton Genf etwa wendet das folgende Prinzip an: In lebensgefährlichen Notfällen überwiegt das Lebenserhaltungsprinzip: Ist der/die Arzt/Ärztin der Ansicht, dass die Entscheidung der Eltern gegen das Wohl des Kindes verstösst, muss er/sie die optimale Behandlung weiterführen, gegebenenfalls auch eine Transfusion durchführen und rechtliche Hilfe verlangen (siehe Chassot/Kem/Ravussin).

In solchen Situationen wird somit auf das vorrangige Wohl des Kindes zurückgegriffen, um einen Entscheid der medizinischen Instanz oder der Schutzbehörde in Notfällen zu schützen.

Organtransplantation

Die Organtransplantation wird in der Schweiz im Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen geregelt. Dieses untersagt, urteilsunfähigen oder minderjährigen Personen Organe, Gewebe oder Zellen zu entnehmen (Art. 13 Abs. 1), ausser in Ausnahmefällen, wenn die schriftliche Einwilligung der Eltern (oder des Vormunds) und des Minderjährigen (wenn dieser urteilsfähig ist) vorliegt. Dies bedeutet, dass sich eine minderjährige urteilsfähige Person einer Transplantation auch widersetzen kann (Vetorecht).

Diese Frage kommt zum Tragen, wenn mit der Organtransplantation eine nahestehende Person oder ein Familienmitglied gerettet werden soll. Die jugendliche Person kann in diesen Fällen direkt oder indirekt unter Druck stehen, weshalb das Vetorecht wichtig ist.

Medizinische/Pharmazeutische Forschung

In der Schweiz waren die klinischen Versuche und die Forschung am Menschen einst teilweise im Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte (dem sogenannten Heilmittelgesetz, HMG) geregelt. Dieses untersteht neu dem Bundesgesetz über die Forschung am Menschen vom 30. September 2011 (HFG), das am 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist. Es schützt Personen, die an einem klinischen Versuch oder einem anderen Forschungsversuch über ein medizinisches Problem teilnehmen. Die Artikel 22 und 23 schützen Kinder (Minderjährige unter 14 Jahren) und Jugendliche (Minderjährige über 14 Jahren) auf klare Weise vor der Teilnahme an Forschungsprojekten und klinischen Versuchen und unterstellen diese Projekte sehr strengen Bedingungen. So ist eine aufgeklärte Einwilligung des Kindes/Jugendlichen und seiner Eltern oder des Vormunds erforderlich (Art.3 HFG).

Urteilsunfähige Kinder können im Prinzip nicht an solchen Forschungsprojekten und Versuchen teilnehmen, ausser unter ganz strengen Bedingungen. So dürfen etwa keine Risiken bestehen und es muss ein grosser Nutzen vorliegen.

Schlussfolgerungen

Beobachtet man die Entwicklung im Gesundheitswesen, kann festgestellt werden, dass das Kind – wie in vielen anderen Bereichen auch, in denen Kinder involviert sind – immer mehr als Person und Rechtssubjekt anerkannt wird. Zudem kommt die autonome Wahrnehmung der Rechte vermehrt zur Anwendung. Bei medizinischen Behandlungen kommt der Einwilligung des Kindes zweifellos eine wichtige Rolle zu, da sie als relatives höchstpersönliches Recht gilt, das somit von urteilsfähigen Kindern ohne die Einwilligung der Eltern wahrgenommen werden kann. In diesem Sinne kann man hier von einer medizinischen Vor-Volljährigkeit des Kindes sprechen, ohne dafür eine Altersgrenze festzulegen, da jeder Fall einzeln untersucht werden muss.

Die Bedingungen für die eigenständige Wahrnehmung der Rechte stehen in Verbindung mit der KRK. Dies gilt etwa für das Recht des Kindes gehört zu werden, das eine Voraussetzung für die Evaluierung seiner Urteilsfähigkeit und des Kindeswohls ist. Gleiches gilt für die konkrete Evaluierung der Urteilsfähigkeit unter Berücksichtigung des Alters und der persönlichen Umstände.

Muss daraus abgeleitet werden, dass das Recht des Kindes auf Schutz unter dieser Entwicklung leidet? Dieser Schluss wäre etwas voreilig. Wir haben gesehen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Kindes in bestimmten Fällen an seine Grenzen stösst und dass der Entscheidungsträger in gewissen heiklen Fällen verpflichtet ist, das Einwilligungs-/Verweigerungsrecht und das Schutzrecht gegeneinander abzuwägen, wobei die Beurteilung des übergeordneten Kindeswohls gemäss Art. 3 Abs. 1 KRK, wie es in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 des Kinderrechtsausschusses weiter ausgeführt wird, erforderlich ist.

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