Abschlusspublikation

Menschenrechtskonforme Haftbedingungen

Publiziert am 29.09.2022

Einführung

Fallbeispiel: Kein Therapieplatz

I. L. wurde zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die zugunsten einer angeordneten stationären Massnahme aufgeschoben wurde. I. L. befand sich über vier Jahre in Haft, bis ihm die Behörden einen geeigneten Therapieplatz zuteilten.

Fallbeispiel: Verschärftes Haftregime

«Aufgrund des bisherigen Vollzugsverhaltens wird T. R. in die SIA II (Kleingruppe) für die vorläufige Dauer von 6 Monaten verlegt.» Mit dieser Begründung im Umfang von einem einzigen Satz wird T. R. die Verlegung in ein verschärftes Haftregime mitgeteilt. Er kann im kommenden halben Jahr nur dreimal pro Woche duschen, bloss halbtags arbeiten, kaum Sport treiben und muss auf Aus- und Weiterbildungsangebote verzichten. Über eine Rechtsvertretung, mit deren Unterstützung er gegen die Vollzugsverfügung vorgehen könnte, verfügt er nicht.

Fallbeispiel: Suizid in Haft

Im Januar 2019 wird R. K., der unter einer diagnostizierten paranoiden Schizophrenie leidet, von der Polizei wegen verschiedener Delikte festgenommen. Im Regionalgefängnis Bern darf er pro Tag lediglich eine Stunde an die frische Luft. Angehörige können ihn nur hinter einer Trennscheibe besuchen. Nach sieben Monaten Untersuchungshaft wird er in eine Abteilung für inhaftierte Menschen mit psychischen Problemen verlegt. R. K. erzählt seinen Eltern bei einem der zwei gewährten Besuche, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Anfang August 2019 erhängt sich R. K. in seinem Zimmer und stirbt im Alter von 25 Jahren.

Die drei Fallbeispiele1 machen deutlich: Menschen im Freiheitsentzug befinden sich zwangsweise in einem ausgeprägten Näheverhältnis zum Staat. Dieser bestimmt während der Haft weitgehend über die Lebensumstände Gefangener und ist vollständig für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse verantwortlich. Die Wahrung der Menschenrechte in Gefängnissen stellt daher eine besondere Herausforderung für jeden Staat dar.2 Entsprechend hat das SKMR im Themenbereich Polizei und Justiz in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche menschenrechtliche Fragestellungen im Schweizer Justizvollzug untersucht. Entstanden ist dabei eine Vielzahl von Gutachten, die insbesondere verschiedene Haftarten wie die Untersuchungshaft, die Verwahrung, die Hochsicherheitshaft oder die ausländer*innenrechtliche Administrativhaft (kurz: Administrativhaft) ins Licht gerückt haben.3 Immer wieder hat sich dabei herausgestellt, dass aus menschenrechtlicher Sicht der Grundsatz der Verhältnismässigkeit von fundamentaler Bedeutung ist: Beschränkungen der Freiheitsrechte inhaftierter Menschen sind immer nur so weit zulässig, wie es für einen geordneten und sicheren Anstaltsbetrieb oder zur Erreichung des konkreten Haftzwecks notwendig ist.

Das vorliegende Kapitel fokussiert auf vier Aspekte der vielschichtigen Haftrealität, bei denen unseres Erachtens aus menschenrechtlicher Perspektive besonderer Handlungsbedarf besteht: Als Erstes diskutieren wir den Zugang zum Internet als Mittel zur Kommunikation mit der Aussenwelt. Hier besteht nach Auffassung der Schreibenden in der Schweiz noch weitgehend ungenutztes Potenzial. Zweitens analysiert das Kapitel, unter welchen Voraussetzungen eine rechtlich angeordnete oder faktische Einzelhaft vor menschenrechtlichen Vorgaben Bestand hat und dem fundamentalen Prinzip der Verhältnismässigkeit entspricht. Diese Form der weiteren Isolierung inhaftierter Menschen kommt in der Schweiz im Gefängnisalltag häufig vor. Fragen zur Verhältnismässigkeit geht der Beitrag auch im dritten Teil nach, dort aber in Bezug auf spezifische Haftformen wie den Verwahrungsvollzug oder die Administrativhaft. Aus menschenrechtlicher Sicht erfordern diese die Unterbringung in spezialisierten Einrichtungen oder Abteilungen, was in der Schweiz nicht konsequent umgesetzt wird. Zuletzt soll auf die verfahrensrechtliche Problematik eingegangen werden, dass Gefangenen nach Haft antritt häufig ein niederschwelliger Zugang zu Rechtsbetreuung und -vertretung verwehrt wird; dies, obwohl die Rechte von Betroffenen auch innerhalb des Justizvollzugs in schwerwiegender Weise eingeschränkt werden können. Aus Platzgründen nicht eingehen können wir auf weitere gewichtige Problemfelder, wie etwa den Umgang mit psychisch kranken Inhaftierten oder die Frage der Auswirkungen einer Haft auf die Menschenrechte von Angehörigen der gefangenen Person.

Für die vier behandelten Problemfelder wird abschliessend jeweils eine Empfehlung formuliert, die sich in erster Linie an die mit dem Justizvollzug befassten Kantone richtet.4

Analyse

Verbesserter Kontakt zur Aussenwelt durch geregelten Internetzugang

Der Kontakt zur Aussenwelt ist für Gefangene und ihre Resozialisierung zentral. Im Vordergrund steht dabei die Pflege bestehender sozialer Bindungen. Inhaftierten wird diese in erster Linie durch die Zulassung von Besuchen ihrer Angehörigen ermöglicht. Teilweise werden hierzu auch sogenannte «Beziehungs-» oder «Familienzimmer» zur Verfügung gestellt, in denen Besuche ohne Überwachung stattfinden können. Neben und zusätzlich zu dieser direkten Form der Kontaktpflege gewinnt die digitale Kommunikation für das Sozialleben stetig an Bedeutung.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Internet zur weltweit prägendsten Kommunikationstechnologie entwickelt, deren Nutzung sämtliche Lebensbereiche beeinflusst. In der Schweiz bleiben Inhaftierte von dieser Entwicklung meist abgehängt, da der Internetzugang in Justizvollzugsanstalten grösstenteils restriktiv gehandhabt wird.5 Inhaftierte sind insofern nicht nur physisch ein- gesperrt: Haft beinhaltet in der Schweiz gegenwärtig auch den Ausschluss aus der digitalen Welt. Eine Überwindung dieser «digitalen Kluft» in Gefängnissen könnte nicht zuletzt neue Resozialisierungsperspektiven eröffnen, indem der Kontakt zur Aussenwelt, der Zugang zu Bildungsinhalten und die Aneignung digitaler Kompetenzen erleichtert werden.6 Gleichzeitig sprechen auch menschenrechtliche Gesichtspunkte für die Einführung eines geregelten Internetzugangs für Inhaftierte.

Internetzugang und Menschenrechte

In der Rechtsprechung hat sich zwar bislang noch kein allgemeiner menschen- rechtlicher Anspruch auf Internetzugang für Inhaftierte etabliert.7 Es scheint aber unbestritten, dass sich ein geregelter Zugang zum Internet für Gefangene positiv auf deren Möglichkeiten zur Ausübung verschiedener Menschenrechte auswirkt. Im Zentrum steht hier zunächst die Informationsfreiheit als Teilgehalt des Rechts auf Meinungsfreiheit (Art. 19 CCPR8, Art. 10 EMRK9). Das Internet als Medium für den Empfang und die Verbreitung von Informationen ist von immenser Bedeutung, zumal viele Informationen o ausschliesslich im Internet zugänglich sind.10

Auch die Ausübung des Rechts auf Familienleben (Art. 10 Ziff. 1 CESCR11, Art. 17 und 23 Abs. 1 CCPR, Art. 8 EMRK) kann durch internetbasierte Kommunikationsformen wie E-Mail, Messenger oder Videotelefonie erleichtert werden.12 Besonders wichtig ist der digitalisierte Kontakt zur Aussenwelt auch, weil er nicht nur die Rechte der Inhaftierten stärkt, sondern auch diejenigen ihrer Angehörigen. Bspw. fördert es das Kindeswohl, wenn ein inhaftierter Elternteil mit seinen Kindern in Kontakt bleiben kann.13

Weiter bietet das Internet Zugang zu unzähligen Bildungsangeboten in allen Sprachen und eignet sich damit dafür, die Ausübung des Rechts auf Bildung (Art. 13 CESCR, Art. 2 EMRK ZP 114) zu stärken.15 Gerade für Inhaftierte, die keine in den Gefängnisbibliotheken vertretene Sprache beherrschen, kann dieser Zugang bislang nicht vorhandene Bildungsmöglichkeiten eröffnen.

Zuletzt erleichtert das Internet für Gefangene auch den Zugang zum Recht (vgl. unten). Online ist es o einfacher, rechtliche Informationen zu finden und mit Rechtsberatungsstellen oder Anwält*innen in Kontakt zu treten.

Insgesamt drängt sich daher aus menschenrechtlicher Perspektive ein Paradigmenwechsel auf: Der Zugang zum Internet für Inhaftierte sollte künftig nicht mehr die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel darstellen. Von dieser dürfte nur aus haftspezifischen oder einzelfallspezifischen Gründen in unterschiedlichem Umfang abgewichen werden (Empfehlung a).

Ausgestaltung des Internetzugangs in Gefängnissen

Die konkrete Ausgestaltung des Internetzugangs muss die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie das Strafverfolgungsinteresse wahren. Ein uneingeschränkter Internetzugang für alle Gefangenen kann aufgrund verschiedener Sicherheitsrisiken keine Option sein. Im Vordergrund steht die Gefahr, dass Inhaftierte im Internet straffällig werden. Zu denken ist hier etwa an digital kommunizierte strafbare Äusserungen (z. B. sexuelle Belästigung oder Beleidigung) oder an die Beteiligung an Straftaten mit Mittäter*innen ausserhalb des Justizvollzugs. Ein weiteres relevantes Risiko stellt die Kollusionsgefahr in der Untersuchungshaft dar.16

Diesen Sicherheitsrisiken kann mittels technischer Möglichkeiten zur Kontrolle und Einschränkung der Nutzung allerdings begegnet werden. So kann bspw. mit Positiv-Filtern das Aufrufen nur bestimmter Websites zugelassen werden.17 Der digitale Kontakt per E-Mail, Messenger oder Videotelefonie kann ausschliesslich mit einer eingeschränkten Personengruppe erlaubt und bei möglichen Risiken überwacht werden. Der Internetzugang für Inhaftierte liesse sich entsprechend in einem Stufenmodell organisieren, das sich an den jeweils vorliegenden Vollzugsrisiken orientiert. Bei Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft würde etwa lediglich der Zugang zu spezifischen Websites geöffnet, und die digitale Kontaktpflege bliebe geschlossen. Einer Person im Strafvollzug ohne Rückfallgefahr, die in absehbarer Frist entlassen wird, könnte ein weitreichender Zugang gewährt werden, sodass lediglich bestimmte problematische Seiten mittels Negativ-Filtern unzugänglich blieben. Das folgende Beispiel aus Deutschland18 zeigt, dass sich solche Modelle praxistauglich umsetzen lassen.

Good Practice: Tablets für Inhaftiert

In der Justizvollzugsanstalt Heidering (Deutschland) können seit Juni 2018 70 Strafgefangene speziell eingerichtete Tablets in der Zelle nutzen. Mit diesen wird nebst dem Zugriff auf ausgewählte Websites (z. B. staatliche Seiten, Wohnungsportale und Wikipedia) auch der E-Mail-Verkehr mit Familienangehörigen, Freund*innen und einzelnen Behörden ermöglicht.

Auch in der Schweiz gibt es erste Digitalisierungsbestrebungen.19 Während der Coronapandemie wurde in vielen Gefängnissen zumindest die digitale Kontaktpflege etabliert oder ausgeweitet.20 Diese Dynamik könnte jetzt genutzt werden, um die Digitalisierung der Haftanstalten weiter voranzutreiben.

Gruppenvollzug als Grundsatz – Einzelhaft als zu rechtfertigende Ausnahme

Angemessene Möglichkeiten für sozialen Austausch, Arbeit und freizeitliche Beschäftigungen sind für Inhaftierte von grosser Bedeutung. Fehlen solche Möglichkeiten, führt dies regelmässig zu schwerwiegenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Dies zeigt sich insbesondere in der Untersuchungshaft. In den ersten Stunden und Tagen nach der Inhaftierung erleben viele Gefangene einen psychisch herausfordernden «Haftschock».21 Unmittelbar aus ihrem Alltag in eine Haftsituation gerissen, kommen für Inhaftierte in zahlreichen Schweizer Gefängnissen belastende Untersuchungshaftbedingungen hinzu. Sie verbringen teilweise bis zu 23 Stunden pro Tag isoliert in ihrer Zelle, die sie für bloss eine Stunde Spaziergang in einem kargen Innenhof verlassen können.22 Entsprechend ist die schweizweite Suizidrate in Untersuchungshaft bedeutend höher als jene im Strafvollzug.23 Doch auch im Strafvollzug, der grundsätzlich als Gruppenvollzug stattfindet, können Inhaftierte isoliert werden, wenn zu deren Selbstschutz oder zum Schutz Dritter Einzelhaft24 angeordnet wird. Als besonders gefährlich eingestufte Gefangene werden in Hochsicherheitsabteilungen in Einzelhaft untergebracht. Dies betrifft zumeist psychisch kranke Inhaftierte.25

Gruppenvollzug und Menschenrechte

Mit Blick auf das psychische Wohlbefinden der Inhaftierten und den Resozialiserungsgrundsatz ist Gruppenvollzug sozial isolierenden Vollzugsformen, insbesondere der Einzelhaft, soweit möglich stets vorzuziehen. Dafür sprechen auch menschenrechtliche Gesichtspunkte. Das Recht auf Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art. 17 Abs. 1 CCPR) umfasst insbesondere den Anspruch, mit anderen Personen in Beziehung treten zu können.26 Aufgrund der potenziell schwerwiegenden Auswirkungen betrifft soziale Isolation in Haft auch die psychische Integrität als Teilgehalt des Rechts auf Privatleben. Eine lang andauernde umfassende Isolation in Form der Einzelhaft kann zudem auch gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK; Art. 7 CCPR) verstossen.27 Darüber hinaus dient die Verhinderung sozialer Isolation Inhaftierter der Suizidprävention (vgl. Fallbeispiel «Suizid in Haft») und somit dem Schutz des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 1 CCPR).

Zur Wahrung der genannten Menschenrechte muss die Vollzugsform stets dem Verhältnismässigkeitsprinzip genügen. Interaktions- und Beschäftigungsmöglichkeiten dürfen nur so weit eingeschränkt werden, als dies notwendig ist, um Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt und das staatliche Strafverfolgungsinteresse zu gewährleisten.28 Aus menschenrechtlicher Sicht gilt deshalb, dass Haft im Grundsatz in der Form des Gruppenvollzugs auszugestalten ist. Einschränkungen dieses Grundsatzes – im äussersten Fall in der Form von Einzelhaft – bedürfen einer spezifischen Rechtfertigung im Einzelfall (Empfehlung b).

Implikationen für Untersuchungshaft und Anordnung der Einzelhaft

Der schematische Zelleneinschluss von Gefangenen in der Untersuchungshaft von mehr als 20 Stunden täglich erweist sich vor diesem Hintergrund als menschenrechtswidrig.29 Insbesondere lässt sich ein solches Haftregime nicht mit Kollusionsgefahr rechtfertigen. Dieser kann ohne Weiteres mit milderen Mitteln begegnet werden, etwa indem Parteien desselben Strafverfahrens in unterschiedliche Gruppen oder Gefängnisse separiert werden. Das folgende Beispiel30 zeigt, dass eine liberale Ausgestaltung der Untersuchungshaft nicht nur rechtlich geboten, sondern auch praktisch umsetzbar ist.

Good Practice: Offene Zellentüren, gemeinsames Mittagessen und Sport

Im Waadtländer Untersuchungsgefängnis La Croisée können Inhaftierte täglich unter Anleitung eines Sportlehrers während 45 Minuten Teamsport betreiben. Das Mittagessen wird im Gemeinschaftsbereich eingenommen, und zumindest während einer Stunde täglich bleiben die Zellentüren geöffnet.

Bei der Anordnung von Einzelhaft ist höchste Zurückhaltung geboten. Die zulässigen Anordnungsgründe31 sind entsprechend restriktiv zu interpretieren. Fluchtgefahr oder eine einfache Störung des Anstaltsbetriebs reichen nicht aus. In zeitlicher Hinsicht darf Einzelhaft nicht länger andauern, als sie zwingend erforderlich ist. Eine Langzeiteinzelhaft von mehr als 15 aufeinanderfolgenden Tagen – die in der Schweiz teilweise weiterhin praktiziert wird – lässt sich kaum mit menschenrechtlichen Vorgaben vereinbaren.32

Spezialisierte Einrichtungen für besondere Haftarten

Das Schweizer Recht kennt verschiedene Haftgründe, die ein jeweils spezifisches Haftsetting und somit die Schaffung spezialisierter Einrichtungen oder zumindest Abteilungen erforderlich machen. Dies gilt für die Administrativhaft, den stationären therapeutischen Massnahmenvollzug sowie für die Verwahrung.

Administrativhaft

Administrativhaft muss nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich in einer speziellen Vollzugsanstalt erfolgen, d. h. in «speziellen, hierfür konzipierten und für freiere Festhaltungsbedingungen geeigneteren Gebäuden [...], die auch äusserlich erkennen lassen, dass es sich um den Vollzug einer administrativen Massnahme [...] und um keine Sanktion für eine Straftat handelt».33 Separate Abteilungen eines normalen Gefängnisses gelten explizit nicht als spezielle Anstalt.34 Ausnahmen von diesem Grundsatz für den Zeitraum von wenigen Stunden oder Tagen sind nur dann zulässig, wenn ein «administrativ anderweitig nicht bewältigbarer wichtiger Grund» vorliegt, wie bspw. ein kurzfristiger Transfer zum Flughafen zwecks Ausschaffung.35 Diese Vorgaben wurden in vielen Kantonen erst zögerlich umgesetzt.36

Stationäre therapeutische Massnahmen

Die stationäre therapeutische Massnahme erfolgt gemäss Art. 59 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmenvollzugseinrichtung. In der Schweiz mangelt es aber an entsprechenden Therapieplätzen, was regelmässig zu Vollzugsverzögerungen und gleichzeitig zur Unterbringung in nicht geeigneten Institutionen führt (vgl. Fallbeispiel «Kein Therapieplatz»).37 So wartet ein nicht zu vernachlässigender Anteil an Personen, die zu einer stationären therapeutischen Massnahme verurteilt wurden, in Schweizer Regionalgefängnissen auf einen Massnahmenplatz und damit auf ein geeignetes Therapiesetting.

Diese Situation ist aus menschenrechtlicher Perspektive dringend zu beheben. Zum einen wird durch die fehlende Therapie die psychische Integrität der Betroffenen gefährdet. Zum anderen verschlechtert sich ohne Möglichkeit zur Therapie die Entlassungsperspektive, was zu einer verlängerten Haftdauer führen kann. Entsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die sechsmonatige Unterbringung einer psychisch kranken Person in einem ungeeigneten Setting als Verstoss gegen das Recht auf Freiheit (Art. 5 Abs. 1 EMRK) beurteilt.38

Verwahrung

Menschenrechtliche Vorgaben legen nahe, dass zu einer Verwahrung Verurteilte spätestens nach Verbüssung einer eventuellen Freiheitsstrafe einem weniger rigiden Regime unterstehen sollten, das sich primär auf die Sicherheit nach aussen ausrichtet.39 Die Haftbedingungen in der Verwahrung sollten im Sinne des Haftzweckes also grundsätzlich liberaler als im Strafvollzug ausgestaltet werden.40 Entsprechend fordert der Menschenrechtsausschuss in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 35 zu Art. 9 CCPR ausdrücklich, dass dem nichtpunitiven Charakter einer Verwahrung mittels einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Haftbedingungen im Vergleich zum Strafvollzug Rechnung zu tragen sei.41 Dass die Verwahrung in der Schweiz im Normalfall nach wie vor entsprechend den Regeln des Strafvollzugs ausgestaltet ist, lässt sich daher kaum mit menschenrechtlichen Vorgaben vereinbaren.42

Haftspezifische Ausgestaltung der spezialisierten Einrichtungen
Die Kantone sind gefordert, für die genannten Haftarten – soweit noch nicht vorhanden – spezialisierte Einrichtungen oder Abteilungen zu schaffen (Empfehlung c).43 Hierbei gilt, dass sich die Ausgestaltung spezialisierter Einrichtungen (z. B. Zelleninfrastruktur, Bewegungsfreiheit innerhalb der Anstalt, Kommunikation mit der Aussenwelt) spezifisch am Haftzweck orientieren muss. Darüber hinaus ist innerhalb eines spezifischen Haftregimes stets auch den besonderen Bedürfnissen vulnerabler Menschen (z. B. Betagter oder Kranker) und den geschlechtsspezifischen Bedürfnissen aller Inhaftierten Rechnung zu tragen.

Zugang zu Rechtsberatung und -vertretung erleichtern

Im Strafprozess muss die beschuldigte Person zwingend verteidigt werden, wenn sie während mehr als zehn Tagen strafprozessual inhaftiert ist oder ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht.44 Die Anordnung der Administrativhaft erfordert zwar nicht in jedem Fall die Beiordnung einer unentgeltlichen Rechtsvertretung; diese kann bedürftigen Inhaftierten aber auf Gesuch hin spätestens nach drei Monaten Haft in der Regel nicht mehr verweigert werden.45 Während des Justizvollzugs ist keine notwendige Rechtsvertretung vorgesehen. So ergibt sich – zumindest für den Straf- und Massnahmenvollzug46 – eine Situation, in der Gefangene zwar zunächst anwaltlich vertreten werden, die Rechtsvertretung aber nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils ersatzlos wegfällt.

Doch die Rechte von Inhaftierten können auch im Justizvollzug in schwerwiegender Weise eingeschränkt werden. Zu denken ist hier etwa an ungenügende Haftbedingungen, Disziplinarsanktionen, Vollzugsverschärfungen oder verweigerte Vollzugslockerungen. Zwar steht betroffenen Gefangenen gegen entsprechende Verfügungen oder Realakte formell der Rechtsweg offen.47 Ob Inhaftierte von ihren Rechten tatsächlich Gebrauch machen, hängt aber o davon ab, ob sie sich in der Sache rechtlich beraten oder vertreten lassen können. Vollzugsverfügungen sind für Gefangene oftmals schwierig zu verstehen, sodass diese ohne Zugang zu professioneller rechtlicher Unterstützung kaum dagegen vorgehen können.48

Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung im Justizvollzug

Menschenrechtliche Verfahrensgarantien (Art. 6 und 13 EMRK, Art. 2 Abs. 3 und Art. 14 CCPR) sehen zwar grundsätzlich keinen Anspruch auf eine unentgeltlichen Rechtsvertretung im Justizvollzug vor.49 Dieser Anspruch ergibt sich für mittellose Inhaftierte aber aus Art. 29 Abs. 3 der Bundesverfassung (BV)50, soweit das konkrete Rechtsbegehren nicht aussichtslos und die Beiordnung einer Rechtsvertretung in der Sache notwendig erscheint. In der Praxis wird für besonders einschneidende Vollzugsentscheide wie die bedingte Entlassung eine unentgeltliche Rechtsvertretung auf Antrag hin denn auch regelmässig gewährt. Doch nehmen Gefangene die grosse Mehrheit der – vermeintlich – weniger gewichtigen Vollzugsverfügungen wie Disziplinarmassnahmen oder Verlegungen in ein anderes Haftsetting (vgl. Fallbeispiel «Verschärftes Haftregime») ohne Rücksprache mit einer Rechtsberatung oder -vertretung entgegen.

Für Inhaftierte im geschlossenen Massnahmenvollzug ist der Vollzugsverlauf von besonderer Bedeutung. Gewährte Vollzugslockerungen, ausgesprochene Disziplinarmassnahmen, Therapieberichte und psychiatrische Gutachten bestimmen massgeblich, wann sie wieder in Freiheit entlassen werden oder ob bspw. eine stationäre therapeutische Massnahme um weitere fünf Jahre verlängert wird (Art. 59 Abs. 4 StGB). Zwar wird die inhaftierte Person im Gerichtsverfahren zur Verlängerung der Massnahme notwendig verteidigt.51 Das Gericht ist in seiner Entscheidung über mehrere Jahre Inhaftierung aber an den in den Akten dokumentierten Vollzugsverlauf gebunden, wogegen mangels Rechtsberatung und -vertretung kaum je Rechtsmittel ergriffen werden konnten.52

Niederschwellige Rechtsberatung erforderlich

Damit Inhaftierte während des Vollzugs ihren verfassungsmässigen Anspruch auf eine unentgeltliche Rechtsvertretung (Art. 29 Abs. 3 BV) tatsächlich einlösen können, müssen sie diesen Anspruch zunächst kennen. Der Zugang zu rechtlichen Informationen und zu rechtlicher Beratung, die im Einzelfall die Erforderlichkeit einer Vertretung feststellt, erscheint somit zentral.53 In Schweizer Gefängnissen bleibt der Zugang zu unabhängiger und erschwinglicher Rechtsberatung allerdings schwierig.54 Das SKMR empfiehlt daher, den Zugang zu rechtlichen Informationen sowie zu unabhängiger Rechtsberatung für Gefangene zu erleichtern (Empfehlung d).

T. R. (s. Fallbeispiel «Verschärftes Haftregime») konnte sich letztlich dank der Vermittlung durch eine privat finanzierte Beratungsstelle55 doch noch anwaltlich vertreten lassen und eine Beschwerde gegen die Verlegung in ein verschärftes Haftregime erheben. Er erhielt teilweise recht, und die Beschwerdeinstanz hob die «mangelhaft begründet[e]» Verfügung auf.56

Ein entsprechendes Beratungsangebot sollte für alle Inhaftierten im Schweizer Justizvollzug niederschwellig zugänglich sein. Hierzu drängt sich eine öffentliche Finanzierung auf, die allerdings die Unabhängigkeit der Beratung nicht berühren darf. Ein geregelter Internetzugang (vgl. oben) könnte dazu dienen, rechtliche Informationen verfügbar zu machen und Rechtsberatung online per Chat oder Videotelefonie anzubieten. Ebenfalls prüfenswert erscheint das Modell der «perpetuierten Verteidigung».57 Hier soll jeder inhaftierten Person für die gesamte Vollzugsdauer eine Rechtsvertretung zur Seite gestellt werden.

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Inhaftierte haben Zugang zum Internet, soweit dadurch keine Sicherheitsrisiken innerhalb und ausserhalb der Haftanstalt entstehen.
b Inhaftierte in allen Haftarten sind im Gruppenvollzug untergebracht. Einschränkungen dieses Grundsatzes – insbesondere die Anordnung von Einzelhaft – bedürfen stets einer spezifischen Rechtfertigung.
c Inhaftierte in Administrativhaft, Massnahmenvollzug, Untersuchungshaft und Verwahrung sind stets in spezifisch für diesen Haftzweck geführten Anstalten oder allenfalls Abteilungen untergebracht.
d Inhaftierte haben niederschwelligen Zugang zur Rechtsberatung und -vertretung.
Fussnoten
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