Abschlusspublikation

Menschenrechte als Teil einer nachhaltigen Corporate Governance

Publiziert am 05.10.2022

Einführung

Fallbeispiel: Institutionelle Investor*innen fordern sozialeren Unternehmenszweck

2018 richtete Larry Fink, Chairman von BlackRock, der grössten Vermögensverwaltung der Welt, einen offenen Brief («Sense of Purpose») an CEOs. Darin forderte er Unternehmen dazu auf, ein gesellschaftsorientiertes Unternehmensmodell umzusetzen: «Society is demanding that companies, both public and private, serve a social purpose. To prosper over time, every company must not only deliver financial performance, but also show how it makes a positive contribution to society. Companies must benefit all of their stakeholders, including shareholders, employees, customers, and the communities in which they operate.»

Fallbeispiel: Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen als Managementaufgabe

Nachdem die Konzernverantwortungsinitiative im November 2020 abgelehnt worden war, trat am 1. Januar 2022 der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft. Dieser verlangt von Unternehmen die Umsetzung von Sorgfaltspflichten zu spezifischen menschenrechtlichen Themen im Rahmen ihres Managementsystems:

Art. 964j Abs. 1 OR: «Unternehmen [...] müssen in der Lieferkette Sorgfaltspflichten einhalten und darüber Bericht erstatten, wenn sie: [...] 2. Produkte oder Dienstleistungen anbieten, bei denen ein begründeter Verdacht besteht, dass sie unter Einsatz von Kinderarbeit hergestellt oder erbracht wurden.»

Art. 964k Abs. 2 OR: «Sie ermitteln und bewerten die Risiken schädlicher Auswirkungen in ihrer Lieferkette. Sie erstellen einen Risikomanagementplan und treffen Massnahmen zur Minimierung der festgestellten Risiken.»

Die Globalisierung der Wirtschaft hat mit zunehmend komplexeren Lieferketten dazu beigetragen, dass sich die Aktivitäten von Unternehmen grenzüberschreitend immer stärker auf Menschen und Umwelt auswirken. Massive Umweltverschmutzungen und gravierende Menschenrechtsverletzungen, in die Unternehmen involviert waren, haben schon früh dazu geführt, die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Im Zuge der Globalisierung hat sich diese Diskussion besonders seit den 1990er-Jahren intensiviert.1

Im Kern geht es um die Frage, welchem Zweck ein Unternehmen verpflichtet ist, nach welchen Grundsätzen es geführt wird und welche Interessen im Rahmen unternehmerischer Tätigkeiten zu priorisieren sind. Ein lange Zeit vorherrschender Corporate-Governance-Ansatz wurde von Milton Friedman in den 1960er-Jahren geprägt.2 Demnach sind Unternehmen ausschliesslich den Interessen ihrer Shareholder verpflichtet. Entsprechend sind soziale Aktivitäten freiwillig und nur zulässig, wenn sie sich nicht negativ auf den Gewinn auswirken: «[...] there is one and only one social responsibility of business to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game [...]».3

Im Vordergrund der Shareholder-Theorie steht eine am erzielten Profit messbare Rechenschaftspflicht der operativen Unternehmensleitung gegenüber den Eigentümer*innen. Unter «stay within the rules of the game» verstand Friedman nicht nur die Einhaltung rechtlicher Rahmenbedingungen, sondern auch grundlegender ethischer und gesellschaftlicher Regeln.4 Der soziale Beitrag an die Gesellschaft wird in der Förderung der (gesamt-)wirtschaftlichen Entwicklung gesehen.5

Im Kontrast zur Shareholder-Theorie steht der Stakeholder-zentrierte Corporate-Governance-Ansatz. Dieser fokussiert nicht ausschliesslich auf die Interessen der Kapitalgebenden, sondern bezieht auch weitere Interessenparteien – z. B. Arbeitnehmende, Kundschaft, Lieferbetriebe, NGOs, lokale Gemeinschaften, die Umwelt – im Rahmen unternehmerischer Tätigkeiten ein.6 Er begreift Unternehmen nicht nur als wirtschaftliche Akteur*innen, sondern sieht in ihnen einen «moralischen Organismus mit einer sozialen und ethischen Verantwortung».7 Im Zusammenhang mit dem Begriff des nachhaltigen Unternehmensinteresses wird auf die «gebündelten [...] Interessen aller von der unternehmerischen Tätigkeit Betroffenen» verwiesen.8 Eine Rechenschaftspflicht besteht somit nicht nur gegenüber den Shareholdern, sondern auch vis-à-vis weiteren Stakeholdern, die von der unternehmerischen Tätigkeit betroffen sind.9 Der Stakeholder-Ansatz bedingt einen breiteren Unternehmenszweck, der nicht nur finanzielle Ziele, sondern auch soziale Ziele, wie z. B. nachhaltiges Wachstum, faire und gleichberechtigte Anstellungsbedingungen sowie langfristige soziale und ökologische Verantwortung, umfasst.10

Weltweit führende Unternehmensverbände, die in der Vergangenheit geschlossen einen Shareholder-zentrierten Ansatz vertraten, haben in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel hin zu einer Stakeholder-orientierten Corporate Governance vollzogen. So hat z. B. Larry Fink, Chairman von BlackRock, der grössten Vermögensverwaltung der Welt, 2018 erklärt, dass Unternehmen zum Vorteil aller Stakeholder geführt werden sollen – einschliesslich der Shareholder, Angestellten, Kundschaft und der Gemeinschaften, in denen sie aktiv sind. Zudem sollten sowohl öffentliche als auch private Unternehmen einem sozialen Zweck dienen und dies in transparenter Weise aufzeigen (vgl. Fallbeispiel).11 Das World Economic Forum (WEF) vertritt in seinem Manifest 2020 die Position, dass der Zweck eines Unternehmens darin besteht, all seine Stakeholder in eine gemeinsame und nachhaltige Wertschöpfung einzubinden.12 Auch der U. S. Business Roundtable hat sich 2019 in einer Stellungnahme zum Zweck der Unternehmen analog positioniert.13

Die nachfolgende Analyse zeigt auf, dass die soziale Verantwortung von Unternehmen gegenüber der Gesellschaft kein neues Thema ist, im Verlauf der Zeit aber eine neue Bedeutung erlangt hat. Anhand aktueller regulatorischer Entwicklungen im Bereich der unternehmerischen Sorgfaltspflicht sowie ausgewählter gesellschaftsrechtlicher Initiativen zum Unternehmenszweck legt sie dar, dass eine verantwortungsvolle Unternehmensführung und die Einhaltung von menschen- und umweltrechtlichen Standards heute ein wichtiger Bestand teil der Corporate Governance sind. Abschliessende Empfehlungen veranschaulichen, wie sich nachhaltige Unternehmensmodelle in der Schweiz noch stärker fördern lassen.

Analyse

Die soziale Verantwortung von Unternehmen in unterschiedlichen Epochen

Die Überzeugung, dass Unternehmen eine soziale Funktion innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen sollen, die über den Profit hinausgeht, ist nicht neu.14 Bereits im antiken Griechenland wurde von Unternehmen erwartet, dass sie soziale Dienstleistungen zugunsten der Gesellschaft erbringen und wirtschaftliche Interessen nicht über jene der Gemeinschaft stellen.15 Auch im Mittelalter wurden wirtschaftliche Tätigkeiten vor dem Hintergrund der moralischen Autorität der katholischen Kirche kritisch betrachtet, und Kaufleute waren verpflichtet, ärmere Mitglieder der Gesellschaft zu unterstützen.16 Selbst während der starken staatlichen Förderung der Wirtschaft in der Zeit des Merkantilismus wurde Wert darauf gelegt, dass Unternehmen im Interesse ihrer Staaten handeln, da diese den wirtschaftlichen Fortschritt durch günstige Rahmenbedingungen in Form staatlicher Interventionen in den Handel überhaupt erst ermöglichten.17

Im Zuge der industriellen Revolution ab dem 18. Jahrhundert kam es zu einer vollständigen Loslösung (mächtiger) privatwirtschaftlicher Unternehmen von ihren bis dahin bestehenden sozialen Pflichten gegenüber Staat und Gesellschaft.18 Aufgrund des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs und des Bestrebens der Unternehmen, immer mehr Profit zu erzielen, verschlechterten sich die Arbeits- und Lohnbedingungen in dieser Zeit laufend.18 Dies trug bereits Ende des 19. Jahrhunderts dazu bei, dass nationale Mindeststandards im Bereich des Arbeitsschutzes eingeführt wurden. 1919 folgten mit der Schaffung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die ersten Standards auf internationaler Ebene.19 Die gesetzliche Festlegung arbeitsrechtlicher Mindeststandards hat dazu beigetragen, dass Unternehmen neben der Profitabilität die Interessen weiterer Stakeholder, insbesondere der Arbeitnehmenden, innerhalb der unternehmerischen Zweckverfolgung beachten mussten.20

Seit den 1950er-Jahren gewannen auf Freiwilligkeit basierende Ansätze der Corporate Social Responsibility (CSR) an Bedeutung.21 Eine Definition der Europäischen Kommission von 2001 beschreibt CSR als ein Konzept für Unternehmen, «auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren».22 Seit 2011 verzichtet die EU-Kommission auf das Kriterium der Freiwilligkeit und definiert CSR neu umfassend als «Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft».23 Beispiele für CSR sind z. B. unternehmerische Aktivitäten in den Bereichen Arbeitsbedingungen, Umweltschutz, ehrenamtliche Tätigkeiten oder Wohltätigkeit.24 Diese umfassende CSR und der Stakeholder-Ansatz heben somit die Notwendigkeit hervor, gesellschaftliche Interessen im Rahmen geschäftlicher Tätigkeiten zu integrieren.25

Im Kontext der Globalisierung wurden von Unternehmen ausgehende Menschenrechts- und Umweltrisiken zunehmend ins Ausland, insbesondere auch in Länder mit einem schwächeren regulatorischen Umfeld, ausgelagert. Dadurch verringerte sich die Wirksamkeit nationaler (und überwiegend) territorialer Gesetze der Sitzstaaten der Unternehmen.26 Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es deshalb immer mehr nationale und internationale Regulierungsinitiativen mit dem Ziel, Unternehmen gesetzlich zu verpflichten, Menschenrechts- und Umweltanliegen im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeiten im In- und Ausland zu berücksichtigen.27

Diese neuen Ansätze basieren auf der Überzeugung, dass freiwillige Massnahmen von Unternehmen alleine nicht ausreichen, um negative Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu verhindern und/oder bereits entstandenen Auswirkungen effektiv zu begegnen.28 Gleichzeitig sind sie Beleg dafür, dass Unternehmen nicht in einem Vakuum operieren, sondern Teil eines sich wandelnden rechtlichen und moralischen Wertesystems sind.29

Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht und Unternehmenszweck

Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene gibt es immer mehr staatliche regulatorische Initiativen, die eine menschen- und umweltrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen statuieren. Grundlage dafür sind die 2011 vom Menschenrechtsrat verabschiedeten UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP).30 Die nachfolgend aufgeführten verbindlichen Regelungen und Initiativen beziehen sich auf die Schweiz und die EU. Sie zielen darauf ab, dass Unternehmen zusätzlich zu den Shareholder-Interessen die Interessen jener Personen in den unternehmerischen Entscheidungsprozess einbeziehen, die in negativer Weise von unternehmerischen Tätigkeiten betroffen sind (weitere Beispiele von Gesetzen mit menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten finden sich in Kapitel 13).

Gesetzliche Regelungen und weitere Initiativen in der Schweiz
In der Schweiz wurden die Entwicklungen im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte insbesondere durch die UNGP31, die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen32 sowie die EU-Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichterstattung33 und die EU-Verordnung zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten zu Mineralien aus Konflikt- und Hochrisikogebieten34 beeinflusst.

Beispiele für verbindliche gesetzliche Regelungen in der Schweiz sind die vom Parlament 2020 verabschiedeten und am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Berichterstattungspflichten über nichtfinanzielle Belange und die themenspezifischen Sorgfaltspflichten in den Bereichen Konfliktmineralien und Kinderarbeit für grosse Unternehmen (vgl. Fallbeispiel).35 Die nichtfinanziellen Berichterstattungspflichten verlangen von Unternehmen, «Rechenschaft über Umweltbelange, insbesondere die CO2-Ziele, über Sozialbelange, Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung der Korruption» abzulegen (Art. 964b Abs. 1 OR). Der Bericht muss von den obersten Leitungsgremien eines Unternehmens unterzeichnet werden (Art. 964c Abs. 1 OR).

Die Sorgfaltspflichten in den Bereichen Kinderarbeit und Konfliktmineralien setzen überdies die Führung eines Managementsystems voraus und bedürfen einer Lieferkettenpolitik, damit die Risiken schädlicher Auswirkungen ermittelt und bewertet werden können (Art. 964k OR). Über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten müssen die obersten Führungsorgane ebenfalls jährlich Bericht erstatten (Art. 964l OR).

Diese neuen Bestimmungen haben zur Konsequenz, dass Unternehmen, beginnend mit der Leitungsebene, Vorgaben u. a. zu Menschenrechts- und Umweltbelangen in ihre Unternehmenskultur und somit auch in ihre Corporate Governance integrieren und bei ihrer Zweckverfolgung in sämtlichen Unternehmensprozessen beachten müssen.

Zusätzlich zu den verbindlichen Vorschriften hat der Bundesrat seine Vorstellungen, wie sich Unternehmen im Rahmen von wirtschaftlichen Tätigkeiten zu verhalten haben, in den Aktionsplänen zu CSR36 sowie zu Wirtschaft und Menschenrechten präzisiert37. Er erwartet

«[...] von den in der Schweiz ansässigen und/oder tätigen Unternehmen, dass sie überall, wo sie tätig sind, ihre menschenrechtliche Verantwortung wahrnehmen und dass sie eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung einführen. Schweizer Un- ternehmen müssen somit jegliche negativen Auswirkungen auf die Menschen- rechte vermeiden.»38

Die Stärkung der Unternehmensverantwortung im In- und Ausland ist ebenfalls ein Schwerpunktthema in der Strategie «Nachhaltige Entwicklung 2030». In dieser wird von in der Schweiz aktiven oder ansässigen Unternehmen verlangt, dass sie «[...] ihre Geschäftstätigkeit im In- und Ausland verantwortungsvoll aus[führen], namentlich was die Arbeitsbedingungen, die Menschenrechte und die Umwelt anbelangt»39, und «dass sie ihre Verantwortung gemäss den international anerkannten CSR-Standards und -Leitlinien bei ihrer gesamten Tätigkeit im In- und Ausland wahrnehmen».40 Zudem fordert der Bund die Privatwirtschaft dazu auf, sich «[...] ambitionierte Ziele für eigene Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung zu setzen, entsprechende Geschäftsmodelle zu kreieren und die Fortschritte auszuweisen».41

Wie auch auf der internationalen Ebene hat in der Schweiz in der jüngeren Vergangenheit ein Paradigmenwechsel hin zu einer Stakeholder-orientierten Unternehmensführung stattgefunden.42 Während der «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» von 2002 Corporate Governance noch als die «Gesamtheit der auf das Aktionärsinteresse ausgerichteten Grundsätze»43 definierte, wurden «die Aktionärsinteressen» 2014 durch «das nachhaltige Unternehmensinteresse» ersetzt44. Damit wurde der Erkenntnis Rechnung getragen, dass die vom Gesetz postulierte Pflicht des Verwaltungsrats, die Interessen des Unternehmens zu wahren45, mit der alleinigen Ausrichtung auf das Aktionariat nicht erfüllt werden kann. Vielmehr hat der Verwaltungsrat im Rahmen der Geschäftsführung auch andere Stakeholder-Interessen und Risiken zu berücksichtigen.46 Ein Vorschlag, welche Interessen darunter subsumiert werden könnten, findet sich in den abschliessenden Empfehlungen an Unternehmen.

Initiativen der EU

Good Practice: Klimafreundliche Energiekonzerne

In den Energiekonzernen ExxonMobil und Chevron setzt sich das Aktionariat für klimafreundliche Geschäftsmodelle ein (Mai 2021):

  • Bei ExxonMobil hat eine Mehrheit des Aktionariats gegen den Willen der Unternehmensführung durchgesetzt, dass drei bisherige Verwaltungsratsmitglieder durch neue, klimabewusste Persönlichkeiten ersetzt wurden. Initiiert wurde dieser Wechsel durch die wertebasierte Investment-Gruppe Engine No. 1, die zwar nur 0,02 Prozent der Anteile an ExxonMobil besitzt, aber dennoch die Mehrheit des Aktionariats überzeugen konnte.
  • Bei Chevron hat das Aktionariat einem Antrag stattgegeben, dass das Unternehmen seine Anstrengungen zur Reduktion der CO2-Emissionen erhöhen und zukünftig auch jene Emissionen in seiner Strategie einkalkulieren muss, die nur implizit durch die Unternehmenstätigkeit verursacht werden (sogenannte Scope-3-Emissionen – z. B. durch Endverbraucher*innen verursachte Emissionen).

Von der EU in Auftrag gegebene Untersuchungen belegen, dass (bereits bestehende) nicht finanzielle Berichterstattungspflichten und sektorenspezifische Sorgfaltsprüfungsinstrumente nicht ausreichen, damit Unternehmen einen risikobasierten und Stakeholder-zentrierten Ansatz umsetzen. Deshalb hat die EU eine Initiative zur Einführung einer allgemeinen und verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfung lanciert.47 Das Europäische Parlament hat im März 2021 den entsprechenden Bericht der Europäischen Kommission mit Empfehlungen für eine Richtlinie angenommen.48 Ziel ist es, einen globalen Standard für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln zu erreichen49 und nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu verhindern oder zu mindern50.

Die neuen Regeln zielen auf grosse Unternehmen sowie KMUs, die in einem menschen- und umweltrechtlichen Hochrisikokontext tätig oder börsennotiert sind.51 Relevante Stakeholder sollen in allen Phasen der Sorgfaltsprüfung miteinbezogen werden.52 Als Stakeholder gelten Personen, deren Rechte und Interessen durch die jeweiligen unternehmerischen Aktivitäten betroffen sind, u. a. Arbeitnehmende, lokale Gemeinschaften, Kinder, indigene Völker oder die Shareholder. Ebenso zählen Organisationen dazu, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten, Sozial- und Umweltnormen und eine gute Unternehmensführung einsetzen (z. B. zivilgesellschaftliche Organisationen oder Gewerkschaften).53 Alle involvierten Unternehmenseinheiten (z. B. Administration, Management, Aufsicht) sind dafür verantwortlich, dass die Tätigkeiten und Zweckerfüllung des Unternehmens im Einklang mit menschen- und umweltrechtlichen Standards erfolgen.54

In einem weiteren Bericht zu den Pflichten der Unternehmensleitung («directors' duties») ist die EU-Kommission im Juli 2020 ebenfalls zum Schluss gekommen, dass es eines EU-weiten Vorgehens bedarf, um länderübergreifend eine einheitliche und nachhaltige Corporate Governance von Unternehmen zu gewährleisten.55 Begründet wird dies damit, dass die Corporate-Governance-Rahmenbedingungen in den EU-Ländern stark divergieren und dass eine nichtnachhaltige Corporate Governance von Unternehmen langfristig massive negative und EU-weite Konsequenzen auf eine Vielzahl von Stakeholdern habe. Um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen, seien deshalb ein koordiniertes Vorgehen und gleiche Spielregeln für alle Unternehmen notwendig.56 Der Bericht schlägt verschiedene Lösungsansätze vor, von Sensibilisierungsmassnahmen über Empfehlungen bis hin zu verbindlichen Regelungen.57 Ein Ansatz sieht vor, dass diese neuen Regeln mit dem zuvor erläuterten Vorschlag für eine verbindliche Sorgfaltsprüfung kombiniert werden.58

Breitere Umschreibung des Gesellschaftszwecks im Gesellschaftsrecht: «Gewinnstrebigkeit»

Das Schweizer Gesellschaftsrecht

Im Schweizer Gesellschafsrecht stellt die Verfolgung eines wirtschaftlichen Zwecks und somit die Gewinnstrebigkeit die Regel dar. Die Erfüllung eines ideellen Unternehmenszwecks, d. h. die «Förderung von Drittinteressen unter Erhalt der Zahlungsfähigkeit»59, bildet die Ausnahme.60 Der Grundsatz der Gewinnstrebigkeit einer Gesellschaft ist nicht explizit im Gesetz enthalten, sondern «wird vom Gesetzgeber als selbstverständlich unterstellt».59 Auf welche Art und Weise ein Unternehmen Gewinn erzielt, wird über den thematischen Zweck eines Unternehmens definiert. Dieser muss in den Statuten festgehalten und kann abgeändert werden.61, 62Eine gewinnorientierte Ausrichtung bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Unternehmen bei der Zweckverfolgung nicht auch Sozial- und Umweltziele verfolgen kann. Aus menschenrechtlicher Sicht problematisch ist es jedoch, wenn nur die (finanziellen) Interessen der Shareholder berücksichtigt werden und die Gewinnmaximierung auf Kosten einer menschen- rechts- oder umweltbezogenen Unternehmensführung erfolgt.

Nachfolgend werden zwei Beispiele aus Frankreich und den USA dargelegt, die zusätzlich zur Profitabilität von Unternehmen vorsehen, dass Unternehmen weitergehende Sozial- und/oder Umweltinteressen verfolgen. Die gesetzliche Verankerung solcher «Anreize» kann dazu beitragen, dass Unternehmen Nachhaltigkeitsüberlegungen in ihre Unternehmenskultur integrieren und als Teil des Unternehmenszwecks begreifen. Wie eine solche Lösung in der Schweiz aussehen könnte, wird in den abschliessenden Empfehlungen an den Gesetzgeber aufgezeigt.

«Loi pacte», Frankreich

Schon 2019 hat Frankreich ein Gesetz erlassen, das der eingangs zitierten Vision von Larry Fink entspricht. Ziel dieser «Loi pacte»63 ist es u. a., die Rolle von Unternehmen innerhalb der Gesellschaft neu zu überdenken («repenser la place des entreprises dans la société»)64. Es enthält drei für das vorliegende Kapitel relevante Ansätze:

  1. Das Gesetz ergänzt Art. 1833 des französischen Code civil (CC), der in Abs. 1 statuiert, dass Unternehmen einen rechtmässigen Zweck haben und im gemeinsamen Interesse der Gesellschafter*innen gegründet werden müssen.65 Der neu eingefügte Abs. 2 verlangt, dass Unternehmen bei der Verfolgung des unternehmerischen Zwecks neben unternehmerischen Interessen («intérêt social») auch soziale und ökologische Fragen («enjeux sociaux et environnementaux») berücksichtigen.66 Dieser Zusatz gilt für alle französischen Unternehmen und erweitert den in Art. 1832 CC enthaltenen Grundsatz der Gewinnstrebigkeit.67
  2. 1835 CC ermöglicht es Unternehmen neu, eine «raison d'être» – einen Daseinszweck – in die Satzung aufzunehmen.68 Die «raison d'être» bezieht sich auf grundlegende Prinzipien, die ein Unternehmen aufrechterhalten und für deren Umsetzung es Ressourcen bereitstellen will. Das Konzept bezieht sich zwar auch auf das unternehmerische Interesse («intérêt social»), zielt zusätzlich jedoch darauf ab, eine Verbindung zum Menschen und der Frage der Daseinsberechtigung eines Unternehmens innerhalb der Gesellschaft herzustellen.69
  3. Neu können sich Unternehmen als sogenannte Missionskörperschaften («société à mission») ausweisen.70 Hierfür müssen sie soziale und/oder ökologische Unternehmensziele in der Satzung festlegen und vom Gesetz vorgesehene operative Voraussetzungen – wie z. B. die Bestellung eines separaten Organs zur Überwachung dieser Ziele – erfüllen.71

Good Practice: «Raison d'être» von Atos

Als erstes börsenkotiertes Unternehmen in Frankreich unterbreitete Atos seine «raison d'être» 2019 den Aktionär*innen zur Abstimmung:

«The purpose of Atos is to help design the future of the information space. Its expertise and services support the development of knowledge, education and research in a multicultural approach and contribute to the development of scientific and technological excellence. Across the world, the Group enables its customers and employees, and members of societies at large, to live, work and develop sustainably, in a safe and secure information space.»

«Benefit Corporation Legislation»

Seit 2010 haben in den USA 37 Staaten72 zusätzlich zu den herkömmlichen gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen sogenannte Benefit-Corporation-Gesetzgebungen erlassen. Diese Gesetze ermöglichen es Unternehmen, die nachweislich positive Auswirkungen auf die Gesellschaft oder die Umwelt generieren, sich als eine «Benefit Corporation» zu registrieren.73 Es handelt sich dabei um eine eigene Kategorie juristischer Personen, die sich zusätzlich zur Gewinnerzielung dazu verpõichten, einen öïentlichen Nutzen zu verfolgen. Benefit Corporations sind deshalb vergleichbar mit der «société à mission», da sie die Förderung eines spezifischen öffentlichen Nutzens in ihren Zweck aufnehmen. Sie müssen den Nachweis erbringen, dass der angegebene Nutzen tatsächlich erbracht wird, und ihre Aktivitäten in standardisierter und transparenter Weise offenlegen. Da im amerikanischen Rechtsraum sonst die Interessen der Shareholder im Vordergrund stehen, gibt die Benefit Corporation der Unternehmensführung zusätzlichen Handlungsspielraum, auch Interessen von anderen Stakeholdern zu berücksichtigen, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Good Practice: 2010 Maryland Corporations and Associations Code § 5-6C

Der 2010 Maryland Corporations and Associations Code § 5-6C war die erste Benefit-Corporation-Legislation in den USA. Er enthält folgende Bestimmungen:

§ 5-6C-01 (d) «Specific public benefit» includes:

(1) Providing individuals or communities with beneficial products or services;

(2) Promoting economic opportunity for individuals or communities beyond

the creation of jobs in the normal course of business;

(3) Preserving the environment;

(4) Improving human health;

(5) Promoting the arts, sciences, or advancement of knowledge;

(6) Increasing the flow of capital to entities with a public benefit purpose; or

(7) The accomplishment of any other particular benefit for society or the environment.

Fazit

Heute ist es keinesfalls mehr so, dass ein Unternehmen allein der Profitmaximierung und somit nur den Shareholdern verpflichtet ist. Vielmehr haben Unternehmen weitere Pflichten vis-à-vis der Gesellschaft wahrzunehmen. Dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach einer nachhaltigen, menschen- und umweltzentrierten Corporate Governance hat in den letzten Jahren zu einer Vielzahl von staatlichen und überstaatlichen Regulierungen geführt, welche genau dies fördern.

Ein regulatorischer Ansatz ist, dass die unternehmerische Sorgfaltspflicht gesellschaftliche Interessen und Risiken einbeziehen muss, die über die wirtschaftlichen Interessen hinausgehen. Entsprechende Bestimmungen orientieren sich an einem erweiterten unternehmerischen Risikobegriff, der nicht nur Risiken für das Unternehmen, sondern auch Risiken, die durch die unternehmerische Tätigkeit für betroffene Stakeholder entstehen, miteinbezieht. Negative Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf die Menschenrechte und die Umwelt müssen deshalb in die Unternehmensstrategie und in das Risikomanagement miteinfliessen, auch wenn sie nicht mit Risiken für das Unternehmen selbst oder den Unternehmensgewinn verbunden sind. Aktuelle Beispiele solcher Regulierungen umfassen Richtlinien und Gesetze zu nichtfinanziellen Berichterstattungspflichten und allgemeinen oder sektorenspezifischen Sorgfaltspflichten in der EU, der Schweiz und weiteren Ländern. Die Ausdehnung der bereits bestehenden unternehmerischen Sorgfaltspflicht auf Sozial- und Umweltbelange trägt in positiver Weise dazu bei, dass Unternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen.

Ein anderer Ansatz basiert auf der gesellschaftsrechtlichen Erweiterung des Unternehmenszwecks. Beispiele sind die französische «Loi pacte» oder die in den USA verbreitete Benefit Corporation Legislation. Darin wird explizit die Möglichkeit vorgesehen, dass Unternehmen zusätzlich zur Profitabilität weitere soziale und umweltbezogene Ziele innerhalb der unternehmerischen Zweckverfolgung berücksichtigen. Die explizite Nennung solcher Ziele im Gesetz hat den Vorteil, dass Unternehmen bei der Gründung nicht automatisch davon ausgehen, dass die Profitabilität das höchste Interesse im Rahmen der unternehmerischen Zweckverfolgung darstellt.

Die vielseitigen Entwicklungen im Bereich nachhaltige Corporate Governance bestätigen, dass sich die von Milton Friedman angesprochenen «rules of the game» im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert haben und dass sich ein neuer wertebasierter gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der Verantwortung von Unternehmen gebildet hat. Dieser beinhaltet, dass Menschenrechte in einem wirtschaftlichen Umfeld langfristig nur nachhaltig umgesetzt werden können, wenn ihre Respektierung Teil der Strategie und des Zwecks eines Unternehmens ist. Die massiven Auswirkungen der Coronapandemie auf Wirtschaft und Gesellschaft und die zentrale Rolle von Unternehmen bei der Bewältigung der Folgen sowie der Prävention zukünftiger Pandemien dürften diesen Konsens weiter festigen. Die regulatorische Diskussion zu einer Corporate Governance, die Menschenrechte integriert, mag zwar erst am Anfang stehen, aber aufzuhalten ist sie nicht mehr.

Empfehlungen

An die Legislative

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Das ZGB enthält einen neuen Artikel zur «Betätigung» von Organen juristischer Personen (neuArt. 55bis ZGB): «Die Organe von juristischen Personen wahren die Interessen der juristischen Person sowie die Interessen der von den Tätigkeiten der juristischen Person Betroffenen in guten Treuen und unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsgrundsätzen.»
b Die Sorgfalts- und Treuepflicht des Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft sind wie folgt präzisiert (Art. 717 OR; Ergänzung kursiv): 1 «Die Mitglieder des Verwaltungsrates sowie Dritte, die mit der Geschäftsführung befasst sind, müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft sowie die Interessen der von der unternehmerischen Tätigkeit betroffenen Akteur*innen in guten Treuen und im Sinne einer nachhaltigen Unternehmensführung wahren.»
c Es gibt einen neuen Artikel zu den zu beachtenden Interessen innerhalb der Sorgfalts- und Treuepflicht des Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft (Art. 717 OR): neu1bis «Zu den Interessen der von der unternehmerischen Tätigkeit betroffenen Akteur*innen zählen insbesondere die Interessen von Shareholdern, Arbeitnehmenden, lokalen Gemeinschaften, indigenen Völkern, Kindern und Organisationen, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten, sozial- und umweltrechtlichen Standards und eine gute Unternehmensführung einsetzen.»

An Unternehmen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

d Der Begriff «Corporate Governance» des «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» ist wie folgt präzisiert (Ergänzung kursiv): «Corporate Governance ist die Gesamtheit der auf das nachhaltige Unternehmensinteresse ausgerichteten Grundsätze, die unter Wahrung von Entscheidungsfähigkeit und Effizienz auf der obersten Unternehmensebene Transparenz und ein ausgewogenes Verhältnis von Führung und Kontrolle anstreben. Das nachhaltige Unternehmensinteresse umfasst alle Interessen der von der unternehmerischen Tätigkeit betroffenen Akteur*innen, u. a. Shareholder, Arbeitnehmende, lokale Gemeinschaften, indigene Völker, Kinder und Organisationen, die sich für die Einhaltung von Menschenrechten, sozial- und umweltrechtlichen Standards und eine gute Unternehmensführung einsetzen. Eine wirksame Konsultation dieser Interessengruppen ist im Rahmen der unternehmerischen Sorgfaltspflichtprozesse sicherzustellen.»
Fussnoten
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