Abschlusspublikation

Gesundheit von Sans-Papiers: Zugang zu Sozialversicherungen und Gesundheitsversorgung

Publiziert am 04.10.2022

Einführung

Fallbeispiel: Hausangestellte ohne Versicherungen

Seit ihr Schengen-Visum abgelaufen ist, ist Myriam in der Schweiz untergetaucht. Sie arbeitet aber als Hausangestellte, um ihre Existenz zu sichern und ihre Familie zu ernähren. Wie die meisten Sans-Papiers in der Schweiz ist Myriam keiner obligatorischen Krankenpflegeversicherung angeschlossen. Aus Angst, abgewiesen zu werden, vermeidet sie jeglichen Kontakt mit den Behörden des Landes. Ausserdem weiss sie, dass die Krankenversicherung ihr Budget übersteigen würde. Glücklicherweise ist sie bisher nie ernsthaft erkrankt. Sie hofft, dass sie noch lange gesund bleibt, da sie medizinisch nicht betreut wird. Sie hofft auch, keinen Unfall zu erleiden, denn die Familie, die sie beschäftigt, hat sie bei den Sozialversicherungen nie als Angestellte deklariert.

Fallbeispiel: Chemotherapie ohne Versicherung

Paul ist froh. Obwohl er in der Schweiz keine gültige Aufenthaltsbewilligung hat und keiner Krankenversicherung angeschlossen ist, wurde er im Spital sofort behandelt, als sein Leben in Gefahr war. Nun hat er die Diagnose Leukämie erhalten. Die erste Chemotherapie hat gestern begonnen. Paul weiss nicht, ob die gesamte Behandlung vom Spital übernommen wird. Die Ärzt*innen konnten ihm nur die Übernahme der «Notfallversorgung» garantieren. Eine Sozialarbeiterin hat mit ihm über die Möglichkeit gesprochen, sich bei einer Krankenkasse anzumelden; Paul befürchtet aber, hohe Verspätungszuschläge zahlen zu müssen.

Fallbeispiel: Krankenversicherung ohne AHV-Nummer?

Ezëchiel lebt ohne Aufenthaltspapiere in der Schweiz. Als er sich bei einer Krankenkasse in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung versichern lassen wollte, wurde er gebeten, ein Formular auszufüllen und seine AHV-Nummer anzugeben. Da Ezëchiel keine AHV-Nummer besitzt, hat die Krankenkasse seinen Antrag abgelehnt. Vor dieser administrativen Hürde hat er kapituliert. Er weiss nicht, wie er eine solche AHV-Nummer bekommt, weil er einer nicht gemeldeten Arbeit nachgeht und die Behörden keine Kenntnis von seiner Anwesenheit in der Schweiz haben.

Personen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz (auch «Sans-Papiers» genannt)1 haben theoretisch Zugang zu allen Gesundheitsleistungen, die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abgedeckt sind, sofern sie dieser angeschlossen sind. Das Recht und die Pflicht von Sans-Papiers, in der Schweiz eine Krankenversicherung zu haben, werden jedoch in der Praxis nur selten konkret umgesetzt. Im Folgenden wird auf die Gründe und die Folgen der fehlenden Versicherung von Sans-Papiers eingegangen. Im Übrigen muss der Zugang zur Gesundheitsversorgung aufgrund der internationalen Verplichtungen der Schweiz und des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Hilfe in Notlagen selbst für Sans-Papiers ohne Krankenversicherung gewährleistet sein. Ein solcher Zugang, der hauptsächlich von den Kantonen abhängt, wird jedoch in der Schweiz nicht einheitlich sichergestellt.

Analyse

Herausforderungen für Sans-Papiers beim Beitritt zu einer Krankenversicherung

Der Beitritt zur obligatorischen Krankenversicherung gilt für Sans-Papiers gemeinhin als Eintrittskarte zum Gesundheitswesen. Sind sie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung angeschlossen, haben sie gemäss dem Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG)2 das gleiche Anrecht auf die Übernahme der Leistungen wie Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung oder wie Schweizer Staatsangehörige. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der universellen Abdeckung durch die Krankenversicherung in der Schweiz.3 Die Bundesgesetzgebung weist diesbezüglich keine Lücke auf.4

Der Beitritt zur Krankenversicherung ist nicht von der Rechtmässigkeit des Aufenthalts abhängig5, wie der Bundesrat6 wiederholt bekräftigt hat: Sans-Papiers haben das Recht und die Pflicht, sich für Krankenpflege versichern zu lassen. Dasselbe Versicherungsrecht bzw. -obligatorium (zulasten der Arbeitgebenden) gilt auch für die Unfallversicherung von Sans-Papiers, die einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen.7 Dies garantiert ihnen eine Übernahme der Behandlungskosten bei Berufsunfällen sowie auch Nichtberufsunfällen, wenn sie wöchentlich mindestens acht Stunden bei der gleichen Arbeitgeberin oder beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt sind.8 Wie bei der Krankenversicherung ist der rechtmässige Aufenthalt für die Unterstellung unter das Unfallversicherungsgesetz nicht massgebend.9

Effektiv zeigen jedoch mehrere Studien und Berichte, dass die überwiegende Mehrheit der Sans-Papiers weder der obligatorischen Krankenpflegeversicherung10 noch – im Falle einer Anstellung – der Unfallversicherung angeschlossen sind. Dadurch entsteht für diese Personen eine Lücke bei der Versicherungsdeckung und der Übernahme der Kosten für die Gesundheitsversorgung. Es gibt zahlreiche Gründe, warum jemand nicht der obligatorischen Krankenversicherung bzw. der Unfallversicherung angeschlossen ist.

Angst vor einer Datenweitergabe an die Migrationsbehörden

Viele Sans-Papiers befürchten, dass bei einer Anmeldung bei einer Krankenkasse ihre persönlichen Daten an die kantonalen Migrationsbehörden übermittelt werden, die im Falle eines irregulären Aufenthalts für den Vollzug der Wegweisung zuständig sind.

Grundsätzlich sind persönliche Daten gemäss der Schweizer Rechtsordnung vor Missbrauch geschützt.11 Um Daten wie Name, Geburtsdatum, Nationalität und Wohnort den kantonalen Behörden bekannt geben zu dürfen, braucht es eine Rechtsgrundlage.12 Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)13 hält diesbezüglich den Grundsatz der Schweigepflicht fest. So sieht Art. 33 ATSG vor, dass Personen, die an der Durchführung der Sozialversicherungsgesetze beteiligt sind – insbesondere die Krankenkassen –, gegenüber Dritten Verschwiegenheit zu bewahren haben.14 Auch das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG)15 bietet keine Grundlage für eine solche Datenweitergabe durch die Krankenkassen. Art. 97 Abs. 1 AIG zur Amtshilfe gilt nur für die mit dem Vollzug des AIG betrauten Behörden; Krankenkassen gehören eindeutig nicht dazu.

Die 2008 eingeführten spezifischen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (Bundesgesetz gegen die Schwarzarbeit; BGSA16) führten jedoch zu einer gewissen Verunsicherung in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und den kantonalen Migrationsbehörden, auch wenn die Situation von Sans-Papiers nicht immer mit Schwarzarbeit17 gleichzusetzen ist. Art. 12 Abs. 2 BGSA sieht in der Tat ein System der obligatorischen Bekanntgabe zwischen privaten Organisationen, die für den Vollzug der Sozialversicherungsgesetzgebung zuständig sind, und den Asyl- und Ausländerbehörden vor – sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens hat eine Person ein Einkommen erzielt (aus selbstständiger oder unselbstständiger Erwerbstätigkeit), für das keine Sozialversicherungsbeiträge (AHV, IV, EO, ALV oder Familienzulagen) entrichtet wurden; zweitens scheint es, als ob die Person über keine Aufenthaltsbewilligung (und damit keine Arbeitsbewilligung) in der Schweiz verfügt. Art. 12 Abs. 2 BGSA ist eine Lex specialis zu Art. 33 ATSG.18

Wir sind jedoch der Ansicht, dass der Zusammenarbeitsmechanismus zwischen Behörden gemäss Art. 12 Abs. 2 BGSA beim Abschluss einer Krankenversicherung nicht zur Anwendung kommen sollte.19 Der Beitritt zu einer Krankenversicherung hängt nicht von einem Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit ab, sondern ausschliesslich vom Vorhandensein eines Wohnsitzes oder eines tatsächlichen Aufenthaltsorts in der Schweiz. Die Bedingungen, unter denen die Person gemäss Art. 12 Abs. 2 BGSA den Migrationsbehörden bekannt gegeben wird, müssen jedoch kumulativ erfüllt sein.20Wenn der Krankenversicherung keine Hinweise vorliegen, dass ein Einkommen erzielt wurde, ohne dass Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden (Art. 12 Abs. 2 Bst. a BGSA), dann ist die erste der beiden Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 2 BGSA nicht erfüllt. Ausserdem betrifft die in Art. 12 Abs. 2 BGSA vorgesehene Kommunikation zwischen den Behörden gemäss der Botschaft des Bundesrats vor allem die Ergebnisse von Kontrollen bei Arbeitgebenden. Der Bundesrat erwähnt diesbezüglich die Kontrollen der Abrechnung der Beiträge an AHV/IV/EO/ALV.21 Die Bezahlung der Krankenversicherungsprämien, die in der Eigenverantwortung der Arbeitnehmenden liegt und ohnehin nicht zum Zeitpunkt des Beitritts erfolgt, ist gemäss Bundesrat vom Wortlaut (und vom Sinn) des Gesetzes nicht betroffen.

Trotzdem bleibt die Angst vor einer Meldung der Krankenkassen an die kantonalen Migrationsbehörden für viele Sans-Papiers ein grosses Hindernis. Diese Angst ist weniger durch die Rechtslage begründet, die gemäss unseren Ausführungen keine Anzeige der Person bei den Migrationsbehörden erlaubt, sondern vielmehr durch informelle Praktiken, die unter bestimmten Umständen gesetzeswidrig sind. So wurde in vom SKMR durchgeführten Interviews von Fällen berichtet, in denen sich Krankenkassen mit kantonalen Behörden austauschten, um bspw. die AHV-Nummer der betreffenden Person in Erfahrung zu bringen. Solche Praktiken verstossen jedoch gegen das Gesetz.

Die Höhe der Prämien und Schwierigkeiten beim Zugang zu Prämienverbilligungen

Sans-Papiers verfügen häufig nicht über die finanziellen Mittel, um die mit dem Beitritt verbundenen Krankenversicherungsprämien zu bezahlen.22 Der Prämienbetrag bemisst sich nicht nach den Ressourcen der versicherten Person. Die Nichtbezahlung von Prämien führt zwar nicht per se zu einem Ausschluss von der Versicherung (für die Krankenkassen besteht Versicherungspflicht), es besteht jedoch die Gefahr einer Betreibung wegen ausstehender Prämien. Dadurch können die Behörden allenfalls auf den fehlenden Aufenthaltsstatus der Person aufmerksam werden.23

Die Kantone sind indessen verpflichtet, Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen Prämienverbilligungen zu gewähren (Art. 65 KVG: Verbilligung um mindestens 50 Prozent für junge Erwachsene in Ausbildung und um mindestens 80 Prozent für Kinder24). Hier sind allerdings deutliche Unterschiede zwischen den Kantonen in Bezug auf die Modalitäten und die Höhe der Prämienabdeckung auszumachen; die Abdeckung ist sehr oft ungenügend.25 Ausserdem scheuen sich die Sans-Papiers davor, bei den kantonalen Behörden einen Antrag auf Prämienverbilligung zu stellen.26 Diesbezüglich hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) gemäss Artikel 82d der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE)27 kürzlich bestätigt, dass die für die Auszahlung dieser Prämienverbilligungen zuständigen Behörden gegenüber den Migrationsbehörden eine Meldepflicht haben.28

Aufgrund der Höhe der Prämien besteht eine grosse Diskrepanz zwischen dem Gesetz, das eine Versicherungspflicht für alle in der Schweiz wohnhaften Personen vorschreibt, und der gesellschaftlichen Realität.29 Als Vertragspartei des Sozialpakts30 muss die Schweiz jedoch Massnahmen ergreifen, um den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Gemäss dem Sozialrechtsausschuss bedeutet dies, dass der Staat bedürftigen Personen den Zugang zur Krankenversicherung garantieren muss (Empfehlung a).31 In diesem Sinne übernehmen die Krankenkassen, auch wenn es sich zu einem grossen Teil um private Organisationen handelt, eine öffentliche, gesetzlich festgelegte Aufgabe, zumindest wenn sie im Rahmen der obligatorischen Grundversicherung tätig sind. Folglich sind sie ebenso wie der Staat verpflichtet, die Grundrechte einzuhalten. Überdies muss der Bund das Recht auf Gesundheit dahingehend schützen, dass er einen ausreichenden rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen bereitstellt, damit das Recht auf Gesundheit nicht durch Handlungen oder Unterlassungen privater Akteurinnen oder Akteure beeinträchtigt werden kann (Empfehlungen h und i).32

Das System der Versicherung auf Antrag

Auch wenn die Versicherungen Personen, die der Grundversicherung beitreten wollen, aufgrund der Versicherungspflicht grundsätzlich nicht ablehnen dürfen33, gibt es mehrere Hürden. Eine in der Praxis und der Lehre angetroffene Schwierigkeit betrifft das System des Anschlusses auf Antrag der Person, die sich versichern lassen will. Die Versicherung bei einer Krankenkasse erfolgt nicht automatisch (mit Ausnahme des Sonderfalls von Sans-Papiers, die einen negativen Entscheid oder einen Nichteintretensentscheid auf ihren Asylantrag erhalten haben).34 Den vom SKMR durchgeführten Interviews und weiteren Studien35 zufolge sind jedoch einige Sans-Papiers, die versucht haben, sich bei einer Krankenkasse anzumelden, aufgrund der einzureichenden Informationen und Unterlagen gescheitert: Die Versicherung verlangt in der Praxis eine Wohnsitzbestätigung oder eine gültige Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz, was Sans-Papiers naturgemäss nicht besitzen.36 Um eine Krankenversicherung abzuschliessen, sind diese Dokumente allerdings nicht obligatorisch und dürfen folglich von der Versicherung nicht eingefordert werden. Grundsätzlich passen Sans-Papiers nicht in den Rahmen der Beitrittsanträge. Zudem wird das Beitrittsverfahren heute meistens online abgewickelt, womit den Betroffenen bei administrativen Schwierigkeiten keine Ansprechperson zur Seite steht. Dies kann entmutigend sein. Deshalb braucht eine Person ohne Aufenthaltspapiere in der Praxis fast immer eine Begleitung durch einen Verein oder einen Spitaldienst, damit sie sich versichern lässt.37

Im Übrigen haben Sans-Papiers in den meisten Fällen keine Kenntnis von ihrem Recht und ihrer Pflicht, bei der Krankenversicherung versichert zu sein. Die Kantone sollten die Wohnbevölkerung allerdings über deren Versicherungsrecht und vor allem deren Versicherungspflicht informieren.38 Die von uns gesammelten Daten lassen darauf schliessen, dass diese Information zwar vorhanden ist, dass sie die betroffenen Personen aber – vor allem aus sprachlichen Gründen – nicht erreicht (Empfehlung g).

Das KVG sieht ferner ein System der automatischen Zuweisung zu einem Versicherer durch den Wohnsitzkanton vor, wenn eine Person nicht innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft in der Schweiz einen Beitritt beantragt hat.39 Naturgemäss hat der Kanton aber keine Kontrolle über den Versicherungsanschluss von Sans-Papiers, die nicht offiziell in der Schweiz «angekommen» sind. Diese automatische Zuweisung kann zudem mit beträchtlichen Strafzuschlägen einhergehen (bis zu 50 Prozent der Prämie während fünf Jahren, rückwirkend).40 Dies kann für Sans-Papiers ein besonderes Hemmnis sein und sie davon abhalten, verspätet einen Beitritt zu beantragen.

Good Practice: Administrative Betreuung von Sans-Papiers im Universitätsspital

Das Universitätsspital des Kantons Waadt (CHUV) hat eine eigene administrative Abteilung für die Belange von Personen ohne Krankenversicherung geschaffen, die «Unité conventions, tarifs et populations vulnérables» (Einheit Verträge, Tarife und verletzliche Bevölkerungsgruppen).

Diese Abteilung des CHUV nimmt rechtliche Analysen vor und stellt die administrative und soziale Betreuung von Patientinnen und Patienten sicher, die nicht krankenversichert sind. Jedes Jahr hat der Dienst mit rund 60 bis 70 betroffenen Sans-Papiers zu tun. Die Abteilung legt der Person gegebenenfalls nahe, ihre Situation in Bezug auf die Versicherungspflicht zu bereinigen. Dabei kümmert sie sich in Zusammenarbeit mit der für die Krankenversicherung zuständigen kantonalen Dienststelle um die Kontakte mit der Krankenkasse (Verhandlung, einzureichende Dokumente usw.). Bei verspäteten Beitritten wird der Zuschlag über die kantonalen Verbilligungen übernommen (im Kanton Waadt decken diese bis zu 100 Prozent der Prämien ab), wenn die Person bedürftig ist.

Good Practice: Verein Fri-Santé, Kanton Freiburg

Der Verein Fri-Santé bietet Sans-Papiers sowohl Grundversorgungsleistungen als auch eine Begleitung bei den administrativen Schritten zum Abschluss einer Krankenversicherung an. Unter medizinischer Grundversorgung wird dabei die ambulante Versorgung durch ärztliche Grundversorger*innen sowie weitere Gesundheitsfachleute verstanden.41

Sonderfall Behandlungen nach einem Unfall

Auch in Bezug auf die Unfallversicherung von Sans-Papiers, die einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, ist eine Diskrepanz zwischen Theorie (Versicherungspflicht für alle unselbstständig erwerbstätigen Personen) und Praxis (fehlende Versicherung durch die Arbeitgebenden) zu beobachten. Dies lässt sich hauptsächlich mit dem Verbot der Schwarzarbeit erklären: Angestellte Sans-Papiers werden von den Arbeitgebenden häufig nicht bei den Sozialversicherungen angemeldet, weil diese Sanktionen aufgrund der fehlenden Arbeitsbewilligung befürchten.42 Im Falle eines Unfalls sollte im Prinzip die Krankenversicherung die Behandlungskosten übernehmen, wenn keine Unfallversicherung dafür aufkommt.43 In der Praxis verweigert die Krankenversicherung den Angaben aus den Interviews zufolge aber die Übernahme von Behandlungen, die in den sachlichen Geltungsbereich des Unfallversicherungsgesetzes fallen.

Streiten Arbeitgeber*innen ab, die Person beschäftigt zu haben, liegt es an dieser, das Arbeitsverhältnis zu beweisen, um Anspruch auf die obligatorische Unfalldeckung zu haben. Dies bedeutet ein langwieriges zivilgerichtliches Verfahren, das die Sans-Papiers der Gefahr aussetzt, von den Migrationsbehörden bemerkt und weggewiesen zu werden.44 Darüber hinaus ist keine Finanzierung durch die öffentliche Hand vorgesehen, um den fehlenden Versicherungsanschluss durch die Arbeitgebenden auszugleichen: Gemäss den geführten Interviews würde dies sonst einer Anerkennung der Schwarzarbeit gleichkommen, die in der Schweiz besonders geahndet wird.45

Zwischenfazit: Die Pflicht, den Beitritt zu einer Sozialversicherung nicht zu behindern

Es besteht, wie gesagt, eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Recht und der Pflicht einer Krankenversicherung für Sans-Papiers (und der Unfallversicherung bei einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit) und der in den meisten Fällen fehlenden tatsächlichen Versicherung. Die vollständige Umsetzung des Rechts auf soziale Sicherheit, beschrieben in Artikel 9 des von der Schweiz ratifizierten Sozialpakts, setzt voraus, dass der Staat alle notwendigen Massnahmen trifft, um Hürden beim Beitritt zu Sozialversicherungen zu beseitigen.46 Diese Hürden sind in der Schweiz nicht rechtlicher Art, sondern hängen, wie bei der indirekten Diskriminierung, mit dem Fehlen positiver Massnahmen zusammen, die einen gleichberechtigten Zugang – unabhängig vom rechtlichen Aufenthaltsstatus – zur Gesundheitsversorgung gewährleisten würden. Damit entsteht eine Lücke bei der Umsetzung des Menschenrechts auf Gesundheit.

Vor diesem Hintergrund zeigten die Interviews die unerwünschten Folgen der fehlenden Versicherung auf: Sans-Papiers, die mehrheitlich nicht krankenversichert sind, nehmen erst im äussersten Notfall medizinische Hilfe in Anspruch, wenn die Situation bereits lebensbedrohlich geworden ist. Zu diesem Zeitpunkt erfordert der Gesundheitszustand der betroffenen Person allerdings grössere und entsprechend kostspieligere Behandlungen, als wenn sie sich früher hätte behandeln lassen.47

«Medizinische Grundversorgung» garantiert: Ein unklarer Begriff

Selbst ohne Krankenversicherung haben Sans-Papiers Anspruch auf Krankenpflegeleistungen, die zugänglich und qualitativ hochstehend sein müssen. Dies ergibt sich aus den internationalen Verpflichtungen der Schweiz, namentlich Art. 12 des Sozialpakts, der das Recht auf Gesundheit verankert. Dieses Recht muss ohne diskriminierende Beschränkungen, bspw. aufgrund der Herkunft oder des Aufenthaltsstatus, ausgeübt werden können.48 Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)49 untersagt jegliche Diskriminierung bei der Umsetzung der von der Konvention geschützten Rechte (Art. 14 EMRK). Je nach Schwere der Beeinträchtigung fällt die Gesundheitsversorgung in den Geltungsbereich des Verbots von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) oder den Bereich des Privatlebens (Art. 8 EMRK).50

Die Bundesverfassung (BV)51 garantiert in Art. 12 allen Menschen, ungeachtet ihrer Nationalität oder ihres aufenthaltsrechtlichen Status im Hoheitsgebiet52, in Notlagen das Recht auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Leben unerlässlich sind. Auch wenn sich gemäss dem Bundesrat53 aus dieser verfassungsrechtlichen Bestimmung kein Anspruch auf eine Versicherung bei den Sozialversicherungen ableiten lässt, verlangt sie gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts eine Übernahme der medizinischen Grundversorgung54 ausserhalb des formellen Versicherungssystems55.

Good Practice: Medizinische Versorgung für Sans-Papiers ohne Versicherung

Öffentliches Angebot: In Genf garantiert die CAMSCO («Consultation ambulatoire mobile de soins communautaires») allen Sans-Papiers den Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Die in das Kantonsspital integrierte Einheit wird über öffentliche Gelder finanziert. Die CAMSCO ist aus dem ausdrücklichen politischen Willen hervorgegangen, die Gleichbehandlung betreffend Zugang zur Gesundheitsversorgung und Versorgungsqualität zu gewährleisten. Rund zwei Drittel der behandelten Personen sind Sans-Papiers.

Nichtstaatliche Organisation: Die Arztpraxis Meditrina in Zürich ist eine spezifische Anlaufstelle für Sans-Papiers ohne Versicherungsdeckung. Sie bietet nur medizinische Grundleistungen an; ansonsten werden die betroffenen Personen an andere Fachstellen vermittelt (Ärzt*in, Zahnärzt*in, Spital).

Ein interpretationsbedürftiger Begriff

Unter Wahrung des schweizerischen Föderalismus (Art. 115 BV)56 sind die Kantone dafür zuständig, die verfassungsmässige Garantie von Art. 12 BV und die medizinische Grundversorgung für Sans-Papiers ohne Krankenkasse, die für die Behandlung aufkommt, in der Praxis umzusetzen. Mit anderen Worten: Der Begriff der «medizinischen Grundversorgung» muss von den Kantonen unter Berücksichtigung der anderen verfassungsrechtlichen Garantien ausgelegt werden. Dazu ist anzumerken, dass das Recht auf «medizinische Grundversorgung» nach Art. 12 BV justiziabel ist: Es kann vor einem Gericht geltend gemacht bzw. seine Umsetzung kann eingefordert werden.57

Artikel 12 BV wird zwar häufig im Zusammenhang mit der Nothilfe für abgewiesene Asylbewerber*innen58 angeführt, die Nothilfe für diese besondere Kategorie von Sans-Papiers59 ist jedoch im Bundesrecht spezifisch geregelt. Die Nothilfe für Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, umfasst grundsätzlich den Anschluss an die obligatorische Krankenpflegeversicherung durch die Kantone (Übernahme der Prämie und der Franchise).60 Hier geht es deshalb vielmehr um Sans-Papiers ausserhalb des Asylbereichs.61

Der Begriff der «medizinischen Grundversorgung» bezieht sich gemäss der Rechtsprechung auf den Kern der Grundrechte als Grenze für Einschränkungen ebendieser Grundrechte (Art. 36 Abs. 4 BV).62 Der Begriff scheint damit auf den ersten Blick restriktiver als jener der Gesundheitsversorgung von Art. 12 des Sozialpakts, wonach alle Menschen das für sie erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit erreichen sollen. In Art. 12 BV wird jedoch auch auf den Begriff der Menschenwürde Bezug genommen («Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind»), was gemäss mehreren Autor*innen für eine weite Auslegung der gemäss Art. 12 BV abgedeckten Gesundheitsversorgung spricht.63 In diesem Sinne können die Kantone angesichts des Handlungsspielraums, über den sie bei der Umsetzung von Art. 12 verfügen, den sogenannten «minimalen» Leistungskatalog der Nothilfe grosszügig auslegen.64 Doch «ein Ausschluss von medizinischen Leistungen, die in der Schweiz aufgrund des flächendeckenden Obligatoriums der Krankenversicherung gewährleistet sind, lässt sich kaum rechtfertigen»65.

Eine zu enge Auslegung

In der Praxis wird die «medizinische Grundversorgung» von den Kantonen und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen häufig als Notfallversorgung66 verstanden. Der Begriff des Notfalls bezieht sich auf die zeitliche Dringlichkeit der Behandlung für das Überleben der Person, was wichtige Behandlungen für die mittel- oder gar langfristige Gesundheit ausschliesst. So wird bspw. gemäss den geführten Interviews eine erste Chemotherapie als dringend erachtet (wenn der Zustand kurz- oder mittelfristig lebensbedrohlich ist), während die zweite nicht dringend erscheint (obwohl sie für die Heilung notwendig ist). Dieser Aspekt ist auch bei chronischen Krankheiten wie Diabetes oder bei längerfristigen psychologischen Behandlungen problematisch, wie von Fachleuten häufig erwähnt.

Diese Auslegung der nach Art. 12 BV zu erbringenden medizinischen Versorgung scheint angesichts der internationalen Verpflichtungen der Schweiz zu restriktiv. Das Recht auf Gesundheit beinhaltet nämlich das Recht auf Zugang zu medizinischen Einrichtungen, Gütern und Dienstleistungen (Art. 12 Abs. 2 Bst. d Sozialpakt), was gemäss dem Sozialrechtsausschuss unter anderem einen rechtzeitigen, gleichberechtigten Zugang zu Grundleistungen der Prävention, Behandlung und Rehabilitation sowie angemessene Behandlung und Pflege der psychischen Gesundheit bedeutet67. Die Grundleistungen schliessen nach der Auslegung des Sozialrechtsausschusses also sowohl die Prävention als auch die Rehabilitation und die Versorgung im Bereich psychische Gesundheit ein. Gemäss den internationalen Menschenrechten geht die Gesundheitsversorgung, die jeder Person zukommt, folglich über die Notfallversorgung hinaus (Empfehlung c).

Diesbezüglich werden in der Lehre teilweise eher Begriffe wie «notwendige» oder «wesentliche» Versorgung statt «Notfallversorgung» verwendet, um den in Art. 12 BV begründeten Hilfsanspruch zu beschreiben.68 Die UNO Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Agenda 2030 erwähnen in diesem Sinne den Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten. Dabei steht nicht die Dringlichkeit im Zentrum, sondern die Wichtigkeit und die Angemessenheit der Versorgung.

Schliesslich ist festzuhalten, dass die je nach Kanton, Einrichtung oder gar Gesundheitsfachperson unterschiedlichen Auslegungen der «medizinischen Grundversorgung» gemäss Art. 12 im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 8 BV) problematisch sind (Empfehlung b). Die vorherrschende Lehre empfiehlt, dass sich die medizinische Grundversorgung nach dem Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung und dem Begriff des «menschenwürdigen Daseins» richten soll. Als Orientierungshilfe soll den Kantonen die Liste der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) dienen, der noch die zahnmedizinischen Grundleistungen hinzuzufügen sind.

Good Practice: Die CAMSCO in Genf

Die CAMSCO (vgl. Good Practice «Medizinische Versorgung für Sans-Papiers ohne Versicherung») stützt sich bei der medizinischen Versorgung auf den Katalog der obligatorischen Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Dieses Genfer Angebot zielt ausdrücklich auf eine Gleichbehandlung beim Zugang und bei der Qualität der Behandlungen ab.

Empfehlungen

An den Bund

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) garantiert den unentgeltlichen Anschluss an die obligatorische Krankenpflegeversicherung für bedürftige Personen (vollständige Kostenübernahme durch die Kantone über die Verbilligungen).
b Das Gesetz präzisiert Art und Umfang der medizinischen Versorgung, die allen Personen, auch jenen ohne Krankenversicherung, zusteht.
c Der Begriff der «medizinischen Grundversorgung», die allen und somit auch nicht krankenversicherten Menschen gewährt werden muss, wird bei der Umsetzung von Empfehlung b weit und menschenrechtskonform ausgelegt.

An die Kantone

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

d Es gibt mindestens einen Dienst der medizinischen Grundversorgung, der für Sans-Papiers zugänglich ist.
e Sans-Papiers werden automatisch der obligatorischen Krankenversicherung angeschlossen, sobald die zuständige kantonale Behörde von der Situation Kenntnis erhält, ohne Verspätungszuschläge oder Meldung an die Migrationsdienste.
f Für Sans-Papiers ist ein spezifisches und vereinfachtes Verfahren zur Beantragung von Prämienverbilligungen vorgesehen, das garantiert, dass keine Daten an die Migrationsbehörden übermittelt werden.
g Es werden Informationskampagnen zum Recht und zur Pflicht der Krankenversicherung erarbeitet, die speziell auf die Situation von Sans-Papiers ausgerichtet sind (verschiedene Sprachen, besondere Kanäle je nach Gemeinschaften usw.).
h Versicherungen, die Sans-Papiers die Aufnahme in die obligatorische Krankenpflegeversicherung verweigern, werden bestraft. Sans-Papiers haben die Möglichkeit, anonym Anzeige zu erstatten.
i Jedes öffentliche Spital verfügt über ein Verfahren, das Sans-Papiers bei ihren Schritten zum Beitritt zu einer Krankenkasse unterstützt.
j Die Möglichkeit der Verwendung einer City-Card als Mittel, um im Rahmen der Anmeldung bei einer Krankenversicherung den tatsächlichen Aufenthalt der Person in der Schweiz nachzuweisen, wird geprüft.
k Das Gesundheitspersonal ist für Problematiken im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit und dem gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung geschult.
Fussnoten
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